Nicht Ethno-Kitsch, sondern Tradition und Postmoderne machen die Kultur der Maori heute aus - und die Wiederbelebung ihrer Sprache. Ein Besuch im urbanen Neuseeland.
Rote Leuchtschrift flackert am Hauptbahnhof von Auckland über dem Fahrkartenschalter. „Kia Ora, nau mai, haere mai“ lautet die digitale Begrüßung. Es ist ‚Maori Language Week‘, wie jedes Jahr Ende Juli: Alle Schulen, Medien und öffentlichen Einrichtungen Neuseelands fördern gezielt die offizielle zweite Landessprache. Eine Zugstation weiter stehen die polynesischen Laute nicht nur eine Woche lang im Mittelpunkt. Im Geschäftsviertel Newmarket, zwischen Sushi-Restaurants und Edel-Boutiquen, ist der Sitz von Maori TV mitten im Herzen der Südsee-Metropole.
Lampenschirme aus silberfarbenen Flachskörben, Stahlkunst und Holzschnitzerei gestalten den Eingang. Grundwerte der Maori-Philosophie wie ‚Liebe‘ und ‚Ehrlichkeit‘ hängen als postmoderne Lettern an der Wand. Das Design ist so einladend, clever und frisch wie das Programm, das seit acht Jahren aus den Studios in Newmarket gesendet wird. Neben internationalen Dokumentarfilmen laufen eigenproduzierte Sport-Talks, Gameshows, Soaps als Sprachuntericht und ein ‚Superstar‘-Wettbewerb, für den das junge Studiopublikum an manchen Freitagen bis auf die Straße hinaus ansteht. In der Schlange sind auch stets etliche ‚Pakeha‘, wie die Hellhäutigen europäischer Abstammung in Aotearoa, dem ‚Land der langen weißen Wolke‘, heißen.
Beide Wörter haben sich längst ins Alltagsenglisch des Vier-Millionen-Staates eingebürgert – symbolisch für die Verschmelzung beider Volksgruppen, die sich gemeinsam als „Kiwis“ fühlen und sich dennoch immer wieder aneinander reiben. In keinem anderen westlichen Land mit Urbevölkerung – ob Kanada, USA oder Australien – sind sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens so ethnisch durchdrungen wie in Neuseeland. Es gibt keine Ghettos oder Reservate, keine „Randgruppe“ – Maori machen über ein Achtel der Bevölkerung aus. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft, sichtbar und lautstark.
„Wie wir heute leben, ist wohl am ehesten mit den Lappen in Skandinavien vergleichbar“, sagt Carol Hirschfeld, elegant in kurzem schwarzen Mantel und Stiefeln. Sie ist Programmdirektorin von Maori TV, hat deutsche Vorfahren urgroßväterlicherseits, ein gewinnendes Lächeln und ein winziges Büro. Bis vor drei Jahren war die hochgewachsene Maori-Schönheit eines der Vorzeigegesichter des kommerziellen Senders TV 3 und eher in glamouröser Abendmode in Frauenzeitschriften zu sehen als bei einem Protestmarsch der Ureinwohner. Ihre Mutter war vom Stamm Ngati Porou und starb, als sie zehn war. „Ich war fest in der Pakeha-Welt verankert, so wuchs ich auf.“ Dann wechselte sie die Seiten, was anfangs „ziemlich beängstigend“ war: „Ich musste neu anfangen und zu meiner Unwissenheit stehen. Aber für diese Lektion bin ich dankbar.“ Sie meint die Gepflogenheiten und Umgangsformen, in denen sie nicht verankert war – in erster Linie die Sprache.
Die 49jährige ist nicht die einzige im Sender, die täglich Vokabeln lernt: Nur ein Viertel der 673.000 Maori in Neuseeland beherrscht ‚te reo‘, aber es werden stetig mehr. Auch Maori TV verdankt seine Existenz den seit einem Vierteljahrhundert laufenden staatlichen Bemühungen, die indigene Sprache wiederzubeleben. „Je mehr ich verstehe“, sagt Hirschfeld, „desto mehr sehe ich die Welt um mich herum mit anderen Augen.“ Sie macht sogar in der sendereigenen ‚Kapa Haka‘-Gruppe mit, wo die kraftvollen Tänze mit Zungerausstrecken, Schenkelklopfen und Augenrollen geübt werden. „Aus moderner Sicht ist ein Kriegstanz natürlich überholt – aber nicht die Bedeutung, die wir daraus beziehen. Es geht um die Verbundenheit zur Vergangenheit. Es vermittelt mir eine Zugehörigkeit, ein Zuhause.“
Die Visitenkarte der eloquenten Wanderin zwischen den Welten ist zweisprachig bedruckt. Die meisten ihrer Meetings beginnen jetzt mit einem ‚karakia‘,einem Maori-Gebet. Von Gästen wird Hirschfeld oft mit einem ‚hongi‘, dem Stirn- und Nasenkuss, begrüßt. Und was woanders der Rundfunkrat ist, ist bei Maori TV ein ‚Rat der Weisen‘: Distinguierte Stammesälteste sorgen dafür, dass zum Beispiel nichts explizit Sexuelles auf den Bildschirm gelangt. „Wir werfen ein anderes Licht auf Maori als die Medien, die sich nur aufs Negative konzentrieren“, sagt die Programmdirektorin. „Die wenigsten Kiwis wissen, wie viele fantastische Initiativen und Veranstaltungen es von Maori-Seite aus gibt, welche positive Engergie da herrscht. Es ist ansteckend!“
Wenn bei Maori TV für eine Reality-Doku ein Haus renoviert wird, dann ist es kein Mittelklasse-Eigenheim, sondern ein Marae – das traditionelle und meist reich verzierte Versammlungshaus der jeweiligen Stämme in jeder Region, in dem Trauerfeiern, Feste, Politisches und Privates stattfinden. Die kulinarische Sendung ‚Kai Time‘ berichtet nicht über Spitzenköche – es sei denn, es handelt sich um einen Maori – sondern ist lieber dabei, wenn Muscheln aus dem Meer geholt und am Strand gegrillt werden. Zwei Drittel der Zuschauer sind Pakeha. Manche Sendungen laufen in ‚te reo‘, andere auf Englisch mit Untertiteln. Die Moderatoren springen locker zwischen den Idiomen hin und her, gelacht wird viel. Dagegen wirken die restlichen Fernsehstationen starr und verstaubt. Maori TV, soviel wird beim Zuschauen wie beim Besuch schnell klar, ist das Aushängeschild eines Landes, in dem Ethnisches nicht Kitsch und Folklore für Touristen ist, sondern gelebte Kultur. Und cool.
Auf dem Bildschirm des Senders läuft gerade ein Musikvideo des Sängers Tiki Taane. „Tangaroa“ (Meeresgott) ist komplett in Maori gesungen – kein süßliches Volkslied, sondern kraftvoller Sprechgesang und Schlagzeug zu tätowierter Haut. Ein anderer Taane-Song war als längste Nummer-Eins-Single in den neuseeländischen Charts. Maori sind sie nicht nur in der Musikszene Stars, sondern längst auch auf den Gebieten, die stets von europäischer Seite dominiert wurden: Kunst, Film, Theater und Literatur. Die großen Filme der letzten beiden Jahrzehnte hatten allesamt Maori zum Thema, von ‚Das Piano‘ bis zu ‚Whale Rider‘ – eine Anerkennung, die weder Innuit, Indios oder Indianern in ihrer jeweiligen Heimat je zuteil wurden. Das Sozialdrama ‚Once were Warriors‘ zeigte 1994 erstmals drastisch die desolaten Lebensumstände der urbanen Maori-Unterschicht und setzte damit eine Zäsur: Suff, häusliche Gewalt – so schlimm ist es also. Für das friedliche Neuseeland ein Schock, für viele Maori eine Nestbeschmutzung des Autors Alan Duff. 18 Jahre später schlägt der preisgekrönte Neuseelandfilm‚Boy‘ ganz andere Töne an: Nicht mit Betroffenheit, sondern lakonischem Witz und viel Poesie erzählt Regisseur Taika Waititi autobiographisch von einer Kindheit abseits der weißen Norm. Eine Emanzipation: So sind wir, und das ist gut so.
Als „riesige Bereicherung“ empfindet Fernsehmacherin Hirschfeld ihre indigenen Wurzeln, aber nicht jede Stammestradition macht für sie Sinn. Zum Beispiel soll ein als heilig empfundenes Schnitzwerk im Nationalmuseum Te Papa nicht von menstruierenden Frauen besichtigt werden, weil das ein Tabu verletzt. „Man muss diese Bräuche aber erst mal verstehen und anerkennen, bevor man sie hinterfragt“, erklärt Hirschfeld. „Was davon Bestand hat oder nicht, verändert sich von Generation zu Generation. Es ist eine lebendige Kultur – zum Glück.“
Die dreht sich längst nicht mehr nur um Knochenschnitzerei und Vogelfedern. Ralph Hotere, mittlerweile 82, war lange der am höchsten gehandelte abstrakte Maler im Lande. Jetzt erzielt der Bildhauer Michael Parekowhai Spitzenpreise. Auf der letzten Biennale stand sein knallroter Steinway-Flügel, komplett aus traditioneller Maori-Schnitzerei gefertigt: Klassik meets Stammeskunst. Zu den größten Dichtern im Lande zählte der weise Hone Tuwhare, und was einst Günter Grass für Deutschland war, ist für Aotearoa noch immer der ehemalige Diplomat Witi Ihimaera, der unter anderem den später verfilmten Bestseller ‚Whale Rider‘ schrieb.
Als Ihimaera auf der letzten Frankfurter Buchmesse zur Gitarre griff und spontan ein Lied in seiner Sprache sang, war das für manche der deutschen Zuhörer eher befremdlich. Außerhalb des Pazifikraumes erschließt sich nicht sofort, dass das Ständchen des hochgebildeten Literaten nicht nur folkloristische Unterhaltung war, sondern spirituelle wie emotionale Tiefenwirkung hat. „Ein paar halbnackte Menschen im Grasrock, die die Zunge rausstrecken, sind vielleicht aus europäischer Sicht nicht Kultur“, wehrt sich Carol Hirschfeld gegen westliche Erhabenheit. „Aber für unser Volk, dessen Geschichte so viel jünger ist, hat es die gleiche Verbindung zur Vergangenheit wie für einen Deutschen eine Wagner-Oper. Es geht um Zugehörigkeit.“ Die Abstammung, die Genealogie, ist in der Maori-Mythologie entscheidend und durchtränkt alles. Ihr Ausdruck in Form von Riten und Liedern ist nicht nur spirituell, sondern hat einen politischen Stellenwert, den jeder Neuseeländer – egal welcher Hautfarbe – ernst nimmt.
Dass die Nationalhymne zuerst auf Maori gesungen wird, dass ein Rugby-Spiel mit einem Haka beginnt und der Besuch von einem Staatsoberhaupt mit einer Zeremonie namens ‚powhiri‘, dass jede Forschung, jeder medizinische Eingriff, jeder Schulunterricht die Werte und Traditionen einer Stammeskultur berücksichtigen muss und keine Schnellstraße gebaut werden darf, wo ein ‚taniwha‘ (Naturgeist) sein Zuhause hat: All das ist einem vergilbten Dokument zu verdanken, das als Kopie auch überdimensional in der Eingangshalle von Maori TV hängt. Der Vertrag von Waitangi zwischen der englischen Kolonialmacht und Maori-Häuptlingen ist so etwas wie der heilige Gral der bikulturellsten Nation der Welt. Er markierte 1840 die Geburtsstunde der jungen Nation und gestand den Maori die Wächterfunktion über Land und Gewässer zu. Rund hundertdreißig Jahre lang, bis zu den Protesten und Landbesetzungen von Maori-Aktivisten in den 70er Jahren, wurden die im ‚Treaty‘ verankerten partnerschaftlichen Rechte und der Schutz der ethnischen Kulturgüter von staatlicher Seite aus jedoch grob ignoriert. Maori wurden enteignet, ihre Sprache und Bräuche unterdrückt, sie starben an eingeschleppten Krankheiten. Auch wenn es nicht zum Genozid wie bei den australischen Aboriginee kam, weil die Maori sich zu wehren wussten – darauf sind die Nachkommen der Krieger bis heute stolz –, ist das historische Unrecht so groß, dass vom Staat bisher über eine Milliarde Dollar an Entschädigung gezahlt wurden. Es stehen noch weitere Summen aus.
Alle Jahre wieder kocht das Thema „Wem steht was zu“ hoch. In diesen Wochen ist es das Recht aufs Wasser, denn ein Energieversorger auf der Südinsel wird verkauft und die Stämme fordern mit Verweis aufs ‚treaty‘ ihren Anteil. „Klagekultur“ und „Absahnen“ nennen es konservative Weiße politisch unkorrekt, die sich daran stören, dass man als Maori dank Quotenregelung leichter ins Medizinstudium und an finanzielle Förderung kommt. „Ausgleichende Gerechtigkeit“ nennt es dagegen ein Mann, der als Arbeiter im Schlachthof begann, heute Medienmillionär ist und sein Land nach wie vor als rassistisch empfindet, „weniger im Umgang miteinander, sondern institutionalisiert“.
Willie Jackson sitzt beim Kaffee im wohlhabenden Stadtteil Ponsonby und erzählt, dass sein Vater in der Schule noch Schläge bezog,wenn er die eigene Sprache sprach. Sein Onkel Syd Jackson war ein berühmter Aktivist – „Neuseelands Malcom X“, der den Neffen prägte. Willie Jackson wurde Gewerkschafter, dann Politiker und hob im Parlament Maori TV mit aus der Taufe. „Unsere Sprache ist ein ‚taonga‘,“ sagt er, „ein Schatz, der für alle Neuseeländer kostbar ist. Er macht uns einzigartig auf der Welt.“
Der 51jährige ist heute das Oberhaupt von 21 Maori-Radiostationen und CEO der ‚Urban Maori Authority‘, Sitz Manukau. Dort, im Süden Aucklands, sind die Hinterhöfe und Zustände teils noch so trostlos wie in ‚Once were Warriors‘, aber die Underdogs sind heute eher Samoaner. Doch nach wie vor sind die Hälfte der Gefängnisinsassen Neuseelands Maori. „Drogen, Alkohol, Arbeitslosigkeit, Gangs – wir führen in allen negativen Statistiken“, räumt Jackson ein. „Umso mehr müssen wir gute Leute fördern und inspirieren, auch mit Quoten. Demokratie hilft einer indigenen Minderheit leider nur selten.“ Er schickt seine Kinder auf die beste Privatschule der Stadt. Zuvor gingen sie in die rein Maori-muttersprachliche Vorschule. „Sie bekommen das Beste von beiden Welten.“
Nachmittags nimmt Willie Jackson im Studio von ‚Radio Live‘ Höreranrufe entgegen. Zusammen mit John Tamihere, der unter der ehemaligen linken Regierung stellvertretender Minister für Maori-Angelegenheit war und zeitweise als zukünftiger Premierminister gehandelt wurde, moderiert der Medienprofi die provokanteste Talkback-Sendung zwischen Kataia und Invercargill. Rundfunk hat in Neuseeland eine prominente Funktion: Das Land hört zu. Die beiden Ex-Politiker foppen und provozieren sich – Jackson als die radikale, Tamihere als gemäßigte Stimme. ‚Willie & JT‘ versteht sich vor allem als Stachel im Pakeha-Fleisch: den eurozentristischen ‚whiteys‘ vorführen, wie kolonialistisch sie noch immer sind. Sechs Jahre lang hatte Jackson eine profilierte Interview-Sendung im ersten Programm. „Wenn ich nicht dauernd lautstark die Maori-Seite vertreten würde, wäre ich noch beim Fernsehen“, ist er sich sicher. Das nagt an ihm. „Natürlich bin ich parteiisch! Das sind Pakeha umgekehrt auch, nur merken sie es nicht.“
In seiner Sendung geht es heute um die Frage, ob man jemanden mit traditioneller Gesichtstätowierung, einem ‘moko‘, einstellen soll. Jackson, im gediegenen Strickpulli, kontert einem Anrufer mit einem Kraftausdruck und lacht dann mit einem ansteckenden Glucksen in Falsetto-Höhe. John Tamiheres Tochter – junge Psychologin und eher hellhäutig – habe auch ein ‚moko‘, erklärt er. Warum tragen ‚JT‘ und Willie keines? „Weil wir aus einer Generation stammen, in der unsere Herkunft nicht verehrt und gefeiert wurde. Für unsere Kinder ist das anders.“
Ein interessierter Anrufer will noch wissen, was der Ortsname ‚Punakaiki‘ bedeutet, dann ist die Sendung vorbei. Jackson legt einem der Mitarbeiter das bunte Programm für den morgigen ‚Maori Day’an der Universität auf den Schreibtisch. Da wird er auf dem Podium fordern, dass ‚te reo‘ Pflichtfach an allen Schulen werden soll: seine Sprache, seine Passion, seine Vision. Im Gehen zeigt er auf das Team, allesamt Pakeha, und lacht: „JT und ich, wir sind die einzigen braunen Gesichter hier.“ Es klingt mehr nach Bedauern als nach Stolz.
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