Dass Stärke nichts mit Muskeln zu tun hat, ist Anastasia Umrik schon lange klar. Um auch andere davon zu überzeugen, hat sie ein Projekt ins Leben gerufen: „anderStark“
Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, kommen Anastasia Umrik oft Ideen. Auch die Idee, irgendwas mit anderen Frauen zu machen, die wie sie eine Muskelschwäche haben, kam ihr in den Sinn, als die Welt um sie herum noch schlief. Nur was sollte sie machen? Und vor allem: Warum? Veränderung – und dafür musste sie die Gesellschaft aufwecken. Die anderen sollten erkennen, dass sie keine Angst oder gar Hemmungen vor Menschen mit Muskelschwäche haben müssen, dass sie nicht weggucken sollen, sondern hinsehen dürfen, denn auch Menschen mit dieser genetisch bedingten Erkrankung sind schön. Und da wusste die 24-Jährige, wie ihr das gelingt: „Mit aussagekräftigen Bilder, die Ironie und Tiefgang haben und dennoch zum Lächeln anregen!" Dann schlief sie ein. Drei Jahre später, als sie mit einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung im Krankenhaus lag und nicht schlafen konnte, ist ihr die Idee wieder eingefallen und sie schwor sich: „Wenn du das überlebst, Anastasia, dann machst du endlich das Fotoprojekt!" Das Versprechen, das sie sich in dieser Nacht gab, hat sie eingelöst. „Ich habe ich mich hingesetzt und einen Text über meine Idee geschrieben", erklärt Anastasia. "Kein richtiges Konzept, denn ich wusste selbst nicht, was genau eigentlich entstehen soll. Und dann habe ich den Text so ins Internet gestellt:" Mein Name ist Anastasia Umrik, ich bin 24 Jahre alt und an Muskelschwund erkrankt. Ich möchte ein Fotoprojekt starten, bei dem Frauen mit Muskelschwund fotografiert werden sollen. Ziel des Projektes ist es, das Denken der Menschen ein Stück weit zu verändern, den Blick über den Tellerrand zu ermöglichen. Wer hat Zeit und Lust? Das war im März 2011. Jetzt, zwei Jahre und drei Monate später ist viel passiert. Fotografen gefunden, Models entdeckt, Fotos geschossen... dabei ist ein Bildband mit ausdrucksstarken Fotos entstanden, die im Juli in einer Ausstellung zu sehen sein werden.
Hallo Anastasia, „Starke Frauen brauchen keine Muskeln" – ist das Motto deines Fotoprojekts namens "anderStark". Was genau ist für dich Stärke?
Stärke ist für mich, sich aufs Positive zu konzentrieren, auf die Möglichkeiten, die man hat und lacht, obwohl man in der Gesellschaft nicht immer etwas zu lachen hat. Stärke ist, auf das zu gucken, was da ist und nicht auf das, was nicht da ist.
Du hast es dir zur Aufgabe gemacht, den Blick der Gesellschaft auf die Stärke der Frauen zu richten, die wie du eine Muskelschwäche haben. Waren gleich alle begeistert von deiner Idee?
Nein, viele reagierten erstmal mit Skepsis! Obwohl mich die meisten kannten. Aber ich wusste zu dem Zeitpunkt ja selbst nicht genau, was genau entstehen soll. Erst als die „Deutsche Gesellschaft für Muskelerkrankung" einen Bericht über das Projekt veröffentlicht hat, ist es so richtig bekannt geworden. Und seitdem kommen Mädels auf mich zu und bewerben sich.
Mit welcher Motivation?
Sie haben einiges zu sagen und möchten gerne Vorurteile beseitigen – und nebenbei stehen Frauen halt gerne als Model vor der Kamera.
Du auch?
Ja, früher wollte ich unbedingt Model sein, das war ein großer Wunsch von mir. Aber ein behindertes Model? Das gibt es nicht, habe ich immer gedacht. Schließlich ist der Körper durch die Behinderung verändert und entspricht nicht dem Ideal, den uns die Medien vorgeben.
Was reizt am Modelsein?
Im Rampenlicht zu stehen, wo mich alle bewundern, denke ich. Aber ganz genau sagen, kann ich es heute eigentlich nicht mehr.
Den Wunsch hast du dir selbst erfüllt...
Ja, und nach drei Shootings, bei denen ich vor der Kamera stand, ist mir klar geworden: Das ist absolut nichts für mich – viel zu anstrengend.
Es gibt ein Foto von dir, da hältst du Luftballons in der Hand, auf einem anderen bist du sexy in Strapsen. Welches magst du lieber?
Das mit den Luftballons, weil wir es ein Sommer-Shooting war und es durch die Ballons so schön leicht wirkt. Das burlesque Foto ist schön zum Anschauen, aber es erinnert mich ans Posen, was total ermüdend war. Man ist ja doch nicht man selbst, sondern schlüpft nur in eine Rolle.
Das erste Mal zu modeln, ist das eine. Gab es sonst noch Schwierigkeiten bei den Shootings?
Für alle Mitwirkenden war es Neuland, nicht nur für die Models, auch für die Fotografen. Darum waren die ersten Shootings komisch, weil die Fotografen ja nicht einfach zum Model sagen konnten: „Heb' mal den Arm!" oder „Überschlag mal deine Beine!" Alles brauchte etwas länger und wir mussten schon im Vorfeld gut überlegen, wo wir hingehen, um Fotos zu machen. Am besten da, wo keine Stufen sind oder andere Barrieren, die man nur mit Hilfe überwinden kann. Rund 100 außergewöhnliche Bilder aus den Themenbereichen Porträt, Emotionales, Lifestyle, Erotik und Provokantes sind entstanden. Gibt es eins, was „anderStark" als Bild am stärksten verkörpert?
Puh, das ist schwer, denn es gibt viele Fotos, die ich sehr mag. Ich persönlich finde das Zirkusfoto sehr ausdrucksstark, auf dem das Model hinter einem roten Vorhang in die Manege guckt, wo sie sich gleich präsentieren wird – das ist eines meiner Lieblingsfotos.
Warum ist es dein Lieblingsfoto?
Weil es so viel Stärke impliziert. Und ich kenne dieses Gefühl, wenn ich irgendwo hingehe, mich zeige und ich alle Blicke auf mich ziehe. Dann ist es so, als würde ein Vorhang aufgehen - darum berührt mich dieses Bild so stark. Das Gefühl, was ich damit verbinde, würde ich als „anderStark" bezeichnen. Das Bild, auf dem ein Frauengesicht mit Heilerde bestrichen ist, finde ich auch toll. Es drückt so viel Zerbrechlichkeit aus.
Du selbst vermittelst einem das Bild, daß du zielstrebig bist und weißt, was du willst. Du bist von der Haupt- auf die Realschule gewechselt, dann aufs Gymnasium und an die Uni. Setzt du dir immer ein Ziel, das du verfolgst?
Ich gebe mich selten zufrieden, mit dem, was ich erreicht habe, denn ich hatte immer das Gefühl, es ist nicht genug. Habe ich ein Ziel erreicht, stecke mir das nächste. Ich will mehr und mehr und mehr erreichen.
Würdest du dich als tough bezeichnen, oder welches Bild hast du von dir? Kommt drauf an, wie ich mich fühle. Ich denke, ich bin eine Mischung aus sehr energisch, aber auch melancholisch – tief in mir ist auch Weltschmerz – hm, da fällt mir jetzt kein passendes Wort zu ein...
Wie wär's mit anderStark?
Einverstanden!
Wie bist du auf den Namen gekommen?
Am Anfang hieß das Projekt noch „anderSchön", weil Frauen mit Muskelschwäche eben anders sind und dennoch schön. Das Projekt soll ja helfen Emotionen wie Angst und Unsicherheit abzubauen, die viele Menschen in Bezug auf körperbehinderte Frauen haben und zeigen, dass es nichts zu verstecken gibt. Als das Projekt angelaufen war, fiel mir auf, dass die mitwirkenden Frauen alle stark sind, trotz ihrer Muskelschwäche. Dann habe ich den Namen kurzerhand in anderStark geändert.
Die Idee kam dir bestimmt wieder nachts.
(kichert) Genau. Und, hast du dich in letzter Zeit nachts gelangweilt und neue Ideen entwickelt? Das Projekt „anderStark" wird nicht nur beim Thema „Frauen und Muskelschwund" bleiben, sondern sich ausweiten. Ich beschäftige mich zwar mit Problemen von Frauen mit Behinderung, aber bin nicht darauf festgelegt. Mein nächstes Projekt ist ein T-Shirt, das sich mit „Inklusion" beschäftigt. Viele kleinen Menschen mit Behinderung bilden das Wort „inkluWAS?" – es ist für alle Menschen, Männer, Frauen, Kinder, damit sich alle Mitglieder der Gesellschaft wiederfinden.
Warst du schon als Jugendliche so stark und selbstbewusst?
Ich war immer diejenige, die Quatschen konnte und zur Klassen- und Schulsprecherin gewählt wurde. Dennoch hatte ich kein gutes Selbstbewusstsein, dachte, dass ich zu behindert bin, weil ich nicht tanzen und kein Sport machen kann und immer auf Hilfe angewiesen bin. Dann habe ich erkannt, dass es total egal ist, ob ich laufen kann oder mit meinem Rollstuhl nebenherfahre, die anderen wollen wirklich mich, so wie ich bin. Sie treffen sich nach der Schule mit mir, weil ich was zu erzählen haben. Da habe ich erkannt, dass jeder eine Qualität hat, etwas, womit er angeben kann – man muss sich nur trauen.
Was ist deine persönliche Stärke?
Ich bin eine Macherin! Mein Motto ist, einfach mal machen, der Rest wird sich dann schon ergeben. Und ich habe die Gabe, Leute zu motivieren und für Dinge so zu begeistern, dass sie Lust haben mitzumachen.
Was hat die Frauen motiviert an deinem Fotoprojekt mitzumachen?
Die meisten haben viel erlebt und viel zu erzählen, aber keine Plattform dafür. Sie wollten sagen, was es zu sagen gibt, das ist der eine Grund. Und sie finden die Idee gut und unterstützenswert, das ist der andere Grund. Ich denke, sie haben auch den Wunsch, ein Teil von anderStark zu werden.
Hat sich durch anderStark in den Köpfen der Gesellschaft etwas verändert?
Mittlerweile ist anderStark eine kleine Marke geworden, die sich herumgesprochen hat. Die Leute kennen mich und das Projekt. Aber manches braucht einfach Zeit – die Zeit muss man der Gesellschaft geben. Es dauert, bis sie verstanden hat, worum es geht, was das Projekt soll, was ich damit erreichen will. Die Intensität ist bei mir noch immer dieselbe wie am Anfang, sie hat nichts an ihrer Kraft verloren.
Zum Original