Annette Refenes Hartmann sitzt an einem großen Holztisch vor ihrer Nähmaschine. Auf der Tischplatte liegen Scheren, ein Maßband, Nähgarn und das Notizbuch der Künstlerin. Auf unzähligen Seiten hat sie Entwürfe skizziert. Neben den Zeichnungen stehen Vermerke in großer Handschrift. An den weißen Wänden hängen Stoffmuster und Samples.
Drei große Rollen mit jeweils fünfhundert Metern Baumwollseil stehen auf dem Boden. Die Seile kommen aus Australien. Viele Jahre hat Annette dort gelebt. Ihren Mann, einen Australier, hat sie in Downunder kennengelernt. Und auch die Baumwollseile.
In ihrer Wohnung in Sydney konnte Annette das Fenster öffnen, indem sie an einem Baumwollseil zog. Eines Tages erweckte das weiche Seil ihre Aufmerksamkeit und sie begann, Kunstobjekte und Gebrauchsgegenstände daraus zu nähen. Seitdem hat die Modelistikmeisterin ihr Handwerk mit dem exotischen Material immer weiter ausgefeilt und erweitert.
WAS MACHT DEINE WERKSTOFFE ZU EINEM GUTEN AUSGANGSMATERIAL FÜR DEINE ARBEITEN?
Das Baumwollseil kann ich mit der Nähmaschine bearbeiten. Außerdem lässt es sich bedrucken und einfärben – dadurch entstehen viele Gestaltungsmöglichkeiten. Toll ist auch, dass es licht- und wetterbeständig ist und man es waschen kann. Diese Eigenschaften sind insbesondere bei den Werken vorteilhaft, die man auch im täglichen Gebrauch nutzen kann. Neben Baumwollseilen verwende ich auch Hanfseil. Hanf ist wie Baumwolle ein nachwachsender Rohstoff – also ökologisch und nachhaltig. Es hat eine hohe Lebensdauer. Sowohl das Baumwollseil als auch das Hanfseil sind geflochten – nicht gedreht. Das macht sie sehr geschmeidig.
ANNETTE, WIE STELLST DU DEINE PRODUKTE HER?
Ich nähe die Produkte mit einem Zickzack-Stich auf meiner Nähmaschine. Diese Arbeitsweise habe ich mir selbst erarbeitet. Durch meine Ausbildung in Modelistik und die langjährige Erfahrung im Textilbereich und im Kunstgewerbe kannte ich viele Techniken, die ich kombinieren und abwandeln konnte. Zum Einfärben des Seils verwende ich klassische Stofffarben, die ich mit der Siebdrucktechnik oder der Spritztechnik auftrage. Manchmal arbeite ich auch Wollgarn und Bänder in meine Objekte ein.
WOHER NIMMST DU DEINE INSPIRATION FÜR NEUE PROJEKTE?
Meistens finden die Ideen mich. Meine Umgebung inspiriert mich - sei es der ganz normale Alltag oder Erfahrungen beim Reisen. Wenn ich neue Kulturen kennenlerne oder ungewöhnliche architektonische Besonderheiten entdecke, finde ich neue Ideen – oder sie mich.
WAS MUSST DU BEACHTEN, WENN DU DREIDIMENSIONALE PRODUKTE HERSTELLST?
Das Material ist dick und nicht so biegsam wie Stoff. Das fordert bei der Gestaltung und Verarbeitung und natürlich heraus. Außerdem muss ich das Seil beim Nähen frei führen und es entweder unter Spannung halten oder im Gegenteil nachgeben, damit es die gewünschte Form bekommt. Die Dicke und Festigkeit ist aber auch ein Vorteil, weil das Seil - einmal in Form gebracht - in dieser Form bleibt. Was die Formen angeht, hat das Material auch Grenzen: Man kann die Seilobjekte nur rund oder oval nähen - es sind also keine Ecken und Kanten möglich. Dafür lassen die Seile mir aber auch viele Freiheiten für die Form und die Farbe der Objekte und ich kann meinen Fantasien freien Lauf lassen. Genauso ist es auch bei meinen Arbeiten mit Nylonseil und Sisal, einem Seil aus den Fasern der Sisal-Agave.
DU HAST AN DER DEUTSCHEN MEISTERSCHULE FÜR MODE IN MÜNCHEN ALS MEISTERIN IN MODELISTIK UND ALS SCHNITT-UND ENTWURFS-DIRECTRICE ABGESCHLOSSEN. DU HAST ALSO DEN MEISTERTITEL IN EINEM HANDWERK – SIEHST DU DICH ALS KÜNSTLERIN, ALS KUNSTHANDWERKERIN ODER ALS HANDWERKERIN?
Ich sehe mich als Kunsthandwerkerin, weil ich Kunst und Handwerk verbinde. Ich mache einerseits Gebrauchsgegenstände, aber auch reine Kunstobjekte für Galerien.
WAS MACHT DEINE WERKE SO EINZIGARTIG?
Ich lege bei meiner Arbeit Wert auf Genauigkeit, Sauberkeit, Vielfalt, Originalität und Individualität - jedes Teil ist ein Unikat. Meine Objekte erkennt man an der guten Verarbeitungstechnik, den hochwertigen Materialien, dem Design und den einzigartigen Formen und Farbmustern.
WAS VERBINDET DICH MIT DEINER KUNST?
Meine Zeit in Australien hat mich persönlich und künstlerisch geprägt. In meinem Leben und in meiner Ehe vereine ich Teile aus der deutschen und der australischen Kultur. Genauso ist es bei meinem Handwerk: Ich verbinde ein Material, das ich aus Australien kenne, mit Techniken, die ich in Deutschland gelernt habe und mache etwas Eigenes daraus. Etwas Einmaliges und das sieht man meinen Objekten auch an.
WIE BESCHREIBST DU DICH ALS KÜNSTLERIN IN DREI WÖRTERN?
Konzentration, Leidenschaft und Genauigkeit. Das trifft es.
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