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Wenn Mitarbeiter ihren Chef wählen

In einer deutschen Firma bestimmen Mitarbeiter ihre Vorgesetzten und verteidigen ihr Gehalt vor Kollegen. Ein Wissenschafter erklärt, ob Basisdemokratie zum Erfolg führt - und was die Kirche mit Wikipedia gemein hat.


In der Firma Elbdudler in Hamburg richten sich die Augen der 40 Mitarbeiter auf die neue Kollegin. Sie untermauert gerade mit Zahlen, warum sie mehr verdienen sollte als der Grafiker der Digitalagentur. Sie kennt die Gewinnentwicklung, weiß, wie hoch die Miete für das Büro ist - und was auf dem Gehaltszettel des Chefs steht.


"Das Gehaltsmodell oder Themen, die alle betreffen, werden in der großen Runde abgestimmt", sagt Julian Vester, der 31-jährige Geschäftsführer von Elbdudler. Alle kleineren Entscheidungen werden selbstständig in Teams oder von der verantwortlichen Person getroffen. Fixe Arbeitszeiten gibt es nicht. "Durch die transparente Darstellung ergibt sich ein sozialer Druck, der dazu führt, dass sich die Anwesenheit von selbst regelt", sagt Vester.


Die vollkommene Basisdemokratie und Mitbestimmung stehen im krassen Gegensatz zu dem, was viele Mitarbeiter in anderen Betrieben täglich erleben: eine starre Hierarchie mit klaren Aufgaben, die bloß nicht verletzt werden sollten. Markus Reitzig erforscht, wie sich Unternehmen organisieren. Für den Wissenschafter der Uni Wien hat das Modell von Elbdudler Berechtigung: "Die neue Spielform hat in der Vergangenheit bereits in anderen Firmen dazu geführt, dass sich die Mitarbeiter selbst realistischer einschätzen müssen." 


Eine Organisation muss generell vier Funktionen erfüllen. Aufgaben müssen definiert und einem Verantwortlichen zugeteilt werden. Es muss sichergestellt werden, dass alle Mitarbeiter die Informationen haben, die sie brauchen. Und die Arbeitnehmer wollen motiviert werden. Wie diese Funktionen erfüllt werden, hängt vom Unternehmen ab. Ein Start-up muss nicht offener sein als eine Firma mit 500 Mitarbeitern: "Es gibt Start-ups, bei denen die Gründer die Hosen anhaben", sagt Reitzig.



Welche Faktoren bestimmen über Karriere? 

Wenn es um die Organisationsstruktur geht, haben Kirche und das Online-Nachschlagewerk Wikipedia eines gemeinsam: eine sehr flache Hierarchie. "Es ist bemerkenswert, dass die katholische Kirche aus nur zwei bis vier Hierarchiestufen besteht - je nach Zählweise", sagt Reitzig. Der Forscher erklärt das damit, dass sowohl in der Kirche als auch bei Wikipedia die Mitglieder ähnlich ticken. "Es gibt offenbar einen wesentlich geringeren Koordinationsbedarf als in Organisationen, in denen sehr unterschiedliche Meinungen herrschen."


Um bei Wikipedia von einem Beitragenden zum Administrator aufzusteigen, braucht der Internetuser vor allem Kompetenz. "In modernen Organisationsformen wird kompetenzbasierte Autorität überdurchschnittlich wertgeschätzt", sagt Reitzig. Neben Kompetenz gebe es zwei weitere Faktoren, die die Karriere einer Person bestimmten. Charisma, also eine übergeordnete Macht, aufgrund derer Mitarbeiter einer Person folgen. Oder traditionelle Gepflogenheiten, wie Seniorität oder die Körpergröße: "Es wäre denkbar, dass eine Person zum Chef ernannt wird, weil sie über 1,90 Meter groß ist - aus Tradition."


Selbstbestimmung müssen die Mitarbeiter lernen

Bei der Hamburger Digitalagentur Elbdudler bestimmt nicht die Größe, sondern die Gunst der Kollegen, wer Chef ist. Alle zwei Jahre wählen die Mitarbeiter die Geschäftsführung. Julian Vester hat vor der Wahl keine Angst: "Ich versuche, die Mitarbeiter zu befähigen, sich selbst zufriedenstellen zu können - indem ich ihnen zuhöre, ihnen mit Respekt begegne und sie ermutige, selbst Lösungen zu finden." Doch Vester weiß, dass das nicht so einfach ist. "Wir haben eine jahrzehntelange Sozialisation im Gepäck, die nicht zu dieser Art zu denken und arbeiten passt."


Ob steile Hierarchie oder Basisdemokratie - die richtige Organisationsform hängt vom Ziel des Unternehmens ab. "Wikipedia hat ein anderes Ziel als ein Zeitungsverleger und deshalb eine andere Struktur", sagt Wissenschafter Reitzig. Wer Kreativität in seinem Unternehmen fördern will, sollte jedoch eines beachten: Je steiler die Hierarchie, desto weniger Ideen kommen an der Spitze an. Bei unsicheren Innovationsprojekten gibt das mittlere Management einen Einfall selten weiter - aus Angst vor Tadel. 


In welcher Unternehmensform lässt es sich nun am besten arbeiten? Das hänge von der Persönlichkeit ab, sagt Reitzig. "Abgesehen vom Wehrdienst habe ich in der freien Welt meist die Wahl, in welchem Kollektiv ich mich engagieren will."

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