Das Künstlernetzwerk "ohnetitel" verwandelte den Salzburger Kommunalfriedhof tagelang in eine Bühne. Im Projekt "Gärten von gestern" geht es um das, was Menschen ausmacht - und auch den Friedhof bestimmt: Erinnerungen.
Ein alter Mann sitzt auf einer Friedhofsbank. Gedankenverloren hält er Nadel und Faden in der Hand. Er stickt. Sein Hemd ist aufgeknöpft, darunter ist eine leicht verblasste Tätowierung in Herzform zu erkennen. Den alten Mann beobachten rund 15 Augenpaare. Er nimmt sie aber nicht wahr. Er ist ganz in seiner Rolle versunken.
Nicht ohne Grund hat die Gruppe "ohnetitel" für ihre neuestes Projekt den Salzburger Kommunalfriedhof gewählt. In "Gärten von gestern" geht es um Erinnerungen, kollektive und individuelle. "Der Friedhof ist ein Ort, wo es Ruhe gibt, wo es Stille gibt, ein Ort, den man genießen kann - und der nicht nur verknüpft ist mit Tod und Sterben. Sondern eben auch mit Erinnerungen", sagt Dorit Ehlers. Die gebürtige Hamburgerin ist eine der vier Projektleiter von "Gärten von gestern". Ein halbes Jahr wurde an der Produktion gearbeitet, das Ergebnis wurde vergangenes Wochenende im Zuge der Sommerszene 2017 gezeigt. 70 Minuten lang wurden die Besucher von Schauspielern durch den Friedhof geführt, die dabei in immer wieder neue Rollen schlüpften.
Was ist es, das die Erinnerung auslöst? Ein Geruch, ein Blick, ein Ton. Acht Koffergrammophone stehen aufgereiht zwischen den Grabsteinen anonymer Soldaten. Der Dirigent gibt einem der Schauspieler hinter den Grammophonen den Einsatz: Ein Rauschen durchdringt den Friedhof, gefolgt von einer Melodie. Die anderen Grammophone stimmen mit ein, werden lauter. Bis der Dirigent die Hand nach unten zieht und nur mehr das Rauschen die Stille durchfährt.
"Kennst du so was noch?", flüstert eine Frau der anderen ins Ohr. "Dazu haben wir früher immer getanzt", sagt ihr Gegenüber. Fünf Meter weiter weisen sie auf ein Grab. "Da liegt die Familie meines Nachbars."
Der Kommunalfriedhof ist der größte der Stadt Salzburg. 20.000 Gräber sind auf 25 Hektar verteilt. Jedes Jahr finden 1300 Abschiedsfeiern statt, ein Drittel davon vor den Urnengräbern. Der Friedhof existiert seit 1879, Vorbild war der Ohlsdorfer Waldfriedhof in Hamburg. Religion spielt im Kommunalfriedhof keine Rolle. Muslime sind hier ebenso begraben wie Katholiken und Menschen ohne Bekenntnis.
Für viele Salzburger ist der Friedhof ein Erholungsgebiet - Bäume, Wiesen und die Stille. Von oben ähnelt das Friedhofsareal einem kleinen Manhattan: Ein geometrisches Raster mit einer Hauptachse zieht sich über das Gelände, ein Broadway sowie schmale Avenues links und rechts unterteilen das Areal in Stadtviertel unterschiedlichen Charakters. "Die Geometrie des Ortes bildet den Rahmen für die Suche nach einer Geometrie der Erinnerung", sagt Dorit Ehlers.
Eine kleine Prozession entsteht
Erinnerung. Wie ein Bild taucht sie plötzlich aus dem Nebel der Gedanken auf, lässt einen nicht mehr los. "Doch wenn wir es fassen wollen, wenn wir das Bild schärfen wollen, verschwindet es", beschreibt Ehlers. Wie die junge Schauspielerin, die plötzlich an die Glaswand des Krematoriums tritt. Sie spricht mit dem Besucher, schaut ihm in die Augen, der versteht aber kein Wort. Was will die Frau sagen? Dann tritt sie in den Nebel zurück, ihre Gesichtszüge verschwimmen.
Doch es werden auch Erinnerungen in der Realität gelebt. Ein Mann pflegt, scheinbar unbeeindruckt von der Theatergruppe, das Grab seiner Frau. Mit Liebe zupft er die Sträucher zurecht, die ringsum positioniert sind. Gab es eigentlich Beschwerden darüber, dass die Theatergruppe ausgerechnet am Kommunalfriedhof ihr Stück aufführt? "Im Gegenteil", sagt Dorit Ehlers: Immer wieder seien Friedhofsbesucher mit den Schauspielern mitgelaufen. Das Stück werde so zu einer kleinen Prozession, ergänzt Ehlers.
Die Prozession endet auf einem großen Feld. Je zwei Stühle stehen sich gegenüber, dazwischen ein Tisch. Ein Schauspieler setzt sich vor den Besucher und liest: "Und mir geschah: Die Welt verginge - und das Vermächtnis aller Dinge, ihr letztes Lied bringst du mir her." Der Schauspieler wechselt den Platz, rückt einen Tisch weiter. Vor dem Besucher sitzt nun der alte Mann, der anfangs gestickt hat. "Und. . . ", sagt er, "Dinge . . ." Wie die Erinnerung verblassen auch die Worte des Gedichts. Das sei das Leben, sagt Dorit Ehlers. "In das Erinnern ist das Vergessen schon eingeschrieben. Sie sind wie siamesische Zwillinge - sie gehören einfach zusammen."
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