November Project: Morgen-Fitness aus den USA - DER SPIEGEL
Es ist 20 nach sieben, und Jeff Morris, 28, reißt sich noch einmal
richtig zusammen: Noch eine Runde Sit-ups, ein letzter Durchgang
Liegestütze. Seine Bauchmuskeln brennen, die Handballen schmerzen auf
dem Asphalt. Über Madison, der Hauptstadt des US- Bundes-staats Wisconsin,
geht gerade die Sonne auf. In weniger als einer Stunde wird Morris auf seinem Bürostuhl sitzen
und am ComputerKinderfahrräder verkaufen. Doch jetzt gerade ist er noch
Leiter der Trainingsgruppe "November Project", und deshalb springt er
auf und rennt die 40 Treppenstufen hinauf zum Capitol, dem
Regierungssitz von Madison. 82 Teilnehmer folgen ihm an diesem Mittwochmorgen. Und egal ob im
Sprint, im Gehen, als Erster oder als Letzter: Jeder, der im Ziel
ankommt, wird - für deutsche Verhältnisse übertrieben - gefeiert,
beklatscht, umarmt. Doch genau deshalb ist das "November Project"
wahrscheinlich so erfolgreich.
Video: Jeff Morris über die richtige Motivation
Genau deshalb ist wohl aus einem morgendlichen Work-out zweier ehemaliger Kommilitonen aus Boston innerhalb von vier Jahren die landesweite Fitnessbewegung unter dem Namen "November Project" geworden: Rund 5000 Menschen in 26 Städten der USA und Kanada treffen sich jeden Mittwoch und Freitag um 6.30 Uhr für ein einstündiges Work-out – ganzjährig und egal bei welcher Witterung. Trainiert wird überall dort, wo es viele Treppen und steile Hügel gibt, meist jedoch nahe dem jeweiligen Universitätsgelände der Stadt.
Die besten Freunde Brogan Graham und Bojan Mandaric, heute 33 und 34
Jahre alt, hatten all das nicht im Sinn, als sie im Herbst 2011
überlegten, wie sie sich in ihrer Universitätsstadt Boston während des
Winters fit halten und was sie gegen Bojans Hang zu leichtem Übergewicht
tun könnten. Da sie keine Lust hatten auf ein teures Fitnessstudio,
erarbeiteten sie ein intensives Work-out, das sie bis zum Frühjahr fit
halten sollte - und trafen sich fortan jeden Morgen und jeder Wetterlage
zum Trotz, immer um 6.30 Uhr. Ihren Plan nennen sie "November Project". Schnell schließen sich dem Zweierteam einige sportbegeisterte
Kommilitonen an. "Über den Zuwachs haben wir uns natürlich gefreut. Aber
als dann Anfang Mai 2012 die erste unbekannte Person zum Work-out
auftauchte, war das zunächst schon komisch", erzählt Bojan rückblickend.
Spätestens als dann nach einem Aufruf in den sozialen Netzwerken an
einem Morgen rund 1500 Teilnehmer zum Training auftauchten, war
"November Project" für alle da. Die meisten Teilnehmer sind laut Bojan
zwischen 25 und 35 Jahre alt. Aber auch über 70-Jährige kommen zum
Training, genauso wie Teilnehmer, die über eine Stunde Anfahrtsweg in
Kauf nehmen.
Video: Der deutsche Student Lucian Rothe ist Fan des Projekts
Auch Brogan und Bojan laufen noch immer. Bojan leitet die Gruppe in
Boston, die von durchschnittlich 600 Menschen besucht wird. Brogan lebt
mittlerweile in San Diego und hat dort eine neue Gruppe aufgebaut. Die
Kooperation mit einem großen Ausrüster für Outdoor-Bekleidung erlaubt es
den beiden, sich komplett auf ihr "November Project" konzentrieren zu
können. In den anderen Städten haben jeweils ein bis zwei Ehrenamtliche die
Koordination und Leitung der morgendlichen Work-outs übernommen. Wer
mitmachen will, kann auf Facebook oder Twitter Kontakt aufnehmen - oder
einfach vorbeikommen.
Die Gruppen treffen sich bei Hitze, bei Dauerregen, bei Sturm und Eis. In Madison schwanken die Temperaturen im Jahr zwischen plus 30 und minus 25 Grad. Rund hundert Teilnehmer trainieren hier in der Gruppe von Jeff Morris und Pat Bauch. Keine Kosten, keine Vorkenntnisse, kein Druck - das macht das Training für viele attraktiv, weiß Jeff. Aber es muss noch mehr sein, was die Menschen an kalten Wintermorgen aus ihren warmen Betten holt. Es sei die Wertschätzung des Einzelnen und der Respekt vor der individuellen Leistung, unabhängig vom Alter und Fitnessgrad und der Figur, glaubt Jeff - denn dies sei im Sportbereich eher selten, wie er selbst früher als Schwimmer erleben musste. Es überhaupt geschafft zu haben, so früh zum Treffpunkt zu kommen, wird hier bereits belohnt, durch stetiges Anfeuern, verschwitzte Umarmungen und lautes Lob der Gruppe.
Bis Jahresende soll es die 30. Trainingsgruppe in Nordamerika geben, auch in Europa möchten Bojan und Brogan ihr "November Project" an den Start bringen. Ihr Versprechen: "Die Teilnahme ist und wird immer kostenlos bleiben."
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