In Montreal streiten derzeit fast 200 Länder um ein historisches Abkommen zur Biodiversität. Was für den weltweiten Klimaschutz die wegweisende UN-Konferenz von Paris 2015 war, soll nun die COP15 in Kanada für den globalen Schutz der Natur, der Artenvielfalt und Ökosysteme werden. Josef Settele ist einer der renommiertesten Biodiversitätsforscher der Welt.
ZEIT ONLINE: Herr Settele, Sie wissen über das Ausmaß der weltweiten Naturzerstörung so viel wie kaum jemand sonst. Gleichzeitig dürfen Sie hier auf der UN-Weltbiodiversitätskonferenz nicht mitbestimmen, was dagegen unternommen wird. Ist das frustrierend?
Josef Settele: Nein, die wissenschaftlichen Erkenntnisse fließen ohnehin ein. Sie sind wahrscheinlich nirgends so bekannt wie hier. Und da die Positionen der Länder meist schon im Vorfeld entwickelt wurden, versuche ich auch selten, Verhandler direkt zu beeinflussen. Allerdings wurde unser Bericht neulich von einer Delegation als "Meinungsmache" bezeichnet, da bin ich dann schon gekränkt und sage auch mal was.
ZEIT ONLINE: Sie sprechen vom globalen Zustandsbericht des UN-Weltbiodiversitätsrats, den Sie als einer von drei Co-Chairs maßgeblich mitverfasst haben. Er erschien 2019 und gilt als wichtigste fachliche Grundlage für die laufenden Verhandlungen über ein neues Abkommen zum weltweiten Naturschutz. Was genau steht auf dem Spiel?
Settele: Wir könnten es verpassen, unsere Lebenssysteme zu erhalten. Sie basieren auf der genetischen Vielfalt, der Artenvielfalt und der Vielfalt von Ökosystemen. Von dieser Biodiversität sind wir alle abhängig, wir sind komplett mit der Natur verwoben. Eine Blumenwiese zum Beispiel ist nicht nur schön, sondern stellt uns ganz viele Leistungen bereit. Die bunten Blüten locken Honigbienen und viele andere Bestäuber an, ohne die es keine Samen und Früchte gäbe. Ohne all das könnten wir nicht leben, wir ernähren uns ja letztlich von Tieren und Pflanzen.
ZEIT ONLINE: In Ihrem Bericht haben Sie das aktuelle Tempo des weltweiten Artensterbens im Vergleich zum Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre auf das Zehn- bis Hundertfache beziffert. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte könnten demnach eine Million Arten aussterben.
Settele: Das ist sogar noch konservativ geschätzt. Solche Zahlen werden immer gern aufgegriffen, was einerseits gut ist: Sich auf das Verschwinden von Arten zu konzentrieren, meist auf charismatische Tiere, weckt Interesse. Die Gefahr ist aber, dass die Leute denken: Sei's drum, es bleiben immer noch ein paar Millionen Arten. Es geht aber eher um die Zerstörung der natürlichen Systeme, die von den Arten getragen werden. Wenn sich zum Beispiel bestimmte Organismen massenhaft vermehren - seien es Coronaviren oder Borkenkäfer im Harz -, zeigt das: je geringer die Vielfalt im System, desto geringer ist auch dessen Widerstandsfähigkeit. Leider erkennt man das oft erst, wenn es zu spät ist.
ZEIT ONLINE: Die Zerstörung der Natur geht vom Menschen aus. Das hat UN-Generalsekretär António Guterres bei der Eröffnung des Gipfels noch einmal betont, indem er uns als "Massenvernichtungswaffe" bezeichnete.
Settele: Er hat drastische Worte gewählt, aber ich stimme ihm zu. Wir haben in unserem Bericht herausgearbeitet, was die Treiber hinter dem Verlust von biologischer Vielfalt sind. Zuvorderst sind das Veränderungen in der Landnutzung, zum Beispiel intensive Landwirtschaft, dann Dinge wie Kahlschlag oder Überfischung, auf Platz drei und vier sind Klimawandel und Umweltverschmutzung, und der fünfte große Faktor sind invasive Arten. Hinter alldem steht der Mensch. Der Klimawandel wird übrigens alle anderen Faktoren überholen und im Laufe der nächsten Jahrzehnte vermutlich die Goldmedaille der Naturzerstörung holen.
ZEIT ONLINE: Zugleich sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, der rasante Verlust von Biodiversität sei im Grunde noch gefährlicher als die Klimakrise. Wieso ist er gesellschaftlich und politisch viel weniger präsent?
Settele: Ich glaube, wir holen auf. China, Träger der Präsidentschaft des Gipfels, hat die Staatschefs nicht zur COP15 eingeladen, aber es wären sicher einige gekommen. Zum Beispiel Lula, der neue Präsident von Brasilien - ein Land, das die Verhandlungen bisher eher gebremst hat. Aber es stimmt schon, noch ist der Klimadiskurs viel größer.
ZEIT ONLINE: Liegt das auch daran, dass sich Biodiversität schlechter vermitteln lässt?
Settele: Der Klimawandel ist von den Indikatoren her ziemlich einfach; es geht um CO₂-Äquivalente. Biodiversität ist viel komplexer und lässt sich nicht so einfach messen. Allein beim Insektensterben muss man unterscheiden zwischen Biomasse und Artenvielfalt: Es ist wichtig, dass insgesamt genügend Insekten da sind, beispielsweise als Nahrung für Vögel. Handelt es sich aber nur um Individuen weniger Arten, ist das Ökosystem trotzdem instabil. Ich stelle in solchen Zusammenhängen gern Bezüge zur Heimat her. Menschen schätzen die Gegend, aus der sie kommen; das zeigt auch der Erfolg des bayerischen Bienenvolksbegehrens.
ZEIT ONLINE: Zuletzt wurden die direkten Zusammenhänge zwischen Klimakrise und Biodiversität immer mehr betont, auch in gemeinsamen Publikationen des Weltklimarats und des Weltbiodiversitätsrats. Sollte man Klima- und Naturschutz überhaupt separat betrachten?
Settele: Die meisten der nötigen Maßnahmen würden tatsächlich beidem nützen. Eine höhere Artenvielfalt von Bäumen im Wald geht zum Beispiel fast immer mit mehr Bindung von Kohlenstoff einher. Inhaltlich lassen sich Klima- und Artenschutz also nicht trennen und es würde sogar Sinn machen, die COPs zusammenzulegen.