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Suizide im Gefängnis: Pandemie der Gefängnis-Suizide

Gegen 9:30 Uhr nimmt Alexander Holstendorf eine Schlinge und legt sie sich um den Hals. Er hat sie aus seinem Bettbezug geknotet. In seiner Akte steht ein "Gemeinschaftsvermerk", was bedeutet, dass er immer beobachtet werden soll, da Suizidgefahr besteht. Das schreibt er in seinen Briefen nach Hause.

Doch am Morgen des 28. April 2021 ist Holstendorf allein. Sein Zellengenosse, der gemeinsam mit ihm in Zelle 40 in der Justizvollzugsanstalt München einsitzt, ist beim Zahnarzt. Zwei Monate später stirbt Holstendorf im Krankenhaus an den Folgen seines Suizidversuchs. Er wurde 40 Jahre alt.

Jedes Jahr nehmen sich Dutzende Häftlinge in deutschen Gefängnissen das Leben, zehnmal mehr Menschen als außerhalb der Gefängnismauern. Der Staat hat das Recht, Menschen einzusperren, gleichzeitig aber auch die Pflicht, in dieser Zeit für sie zu sorgen - was bedeutet, sie im Zweifel vor sich selbst zu schützen. Recherchen von ZEIT ONLINE deuten darauf hin, dass der Staat diese Fürsorgepflicht verletzt.

Der Fall Holstendorf steht exemplarisch dafür, wie der Staat bei der Suizidprävention versagt. Seine Familie wünscht sich, dass sein richtiger Name und der Name seiner Mutter in diesem Text nicht vorkommen, deshalb wurden sie geändert.

Er war 13 Jahre alt, als seine Eltern sich trennten und die Familie zerbrach. Sein Vater war eine wichtige Bezugsperson für ihn, plötzlich haben sie keinen Kontakt mehr. Den Bruch hat Holstendorf nie überwunden, sagt seine Mutter, trotz mehrerer Therapien. Holstendorf stürzte ab. Kiffen im Freizeitheim mit 14, Technoparties auf LSD mit 16, dann Schule schwänzen, sprayen gehen, Zigaretten klauen.

Mit 17 landete er zum ersten Mal im Jugendarrest. Es folgten Heroin und Kokain. Am 9. April 2021 wurde er erneut festgenommen: Holstendorf soll ein Rezept gefälscht, zwei Parfümflaschen geklaut und gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben. Er kam in Untersuchungshaft, zum letzten Mal in seinem Leben.

Kurz nach seiner Einlieferung am 9. April 2021 schrieb er in einem Brief an seine Mutter und Geschwister: "Bin psych. am Ende." Und: "Hoffe mir passiert nix!" Die Beamten und Beamtinnen der Justizvollzugsanstalt lesen die Briefe der Gefangenen, sagt Thomas Galli, der Anwalt der Familie. Sie müssten also von Holstendorfs Verfassung gewusst haben. Auch für Holstendorfs Zellengenossen war seine akute Notlage offensichtlich. Er berichtete später der Mutter Tabea Holstendorf, ihr Sohn sei in der Zelle auf und ab gelaufen und habe Stimmen gehört. Schon in der Nacht vor seinem Suizidversuch habe er versucht, sich etwas anzutun. Da habe der Zellengenosse ihn noch davon abbringen können.

Außerdem habe die JVA bei Holstendorf das starke Beruhigungsmittel Alprazolam abgesetzt, berichtete der Zellengenosse weiter. Es wird gegen Panikstörungen oder Psychosen verabreicht und kann schnell süchtig machen. Von da an habe Holstendorf nicht mehr schlafen können, die Psychose sei "wirklich voll durchgekommen", sagte der Zellengenosse. Auch der den Totenschein ausstellende Arzt und ein Gerichtsmediziner gehen davon aus, dass eine Suizidabsicht vorlag, das zeigen die Ermittlungsakten. Trotzdem teilte die JVA München der Mutter nach dem Suizidversuch mit, es habe aus psychiatrischer Sicht keine Anzeichen auf Suizidalität gegeben.

Im Rahmen einer Datenrecherche hat ZEIT ONLINE bei den Justizministerien der Länder nachgefragt, wie viele Menschen sich zwischen 2011 und 2021 in den deutschen Gefängnissen selbst getötet haben und unter welchen Umständen. Doch dazu, ob Suizidierte an psychischen Erkrankungen litten, ob sie zum Todeszeitpunkt alleine in der Zelle waren, oder ob es bereits frühere Suizidversuche gab, machen sie meist keine Angaben. Kriminologen und Strafrechtler kritisieren seit Langem, dass nur wenige Informationen über die Gefangenen in Deutschland verfügbar sind.

Doch klar wird: Seit Beginn der Pandemie steigt die Zahl der rapide. 2019 nahmen sich 45 Häftlinge das Leben. Im ersten Pandemie-Jahr 2020 waren es bereits 77, 2021 gab es dann sogar 93 Suizide. In Haft nahmen sich im Jahr 2021 16 Mal so viele Menschen das Leben wie in der Normalbevölkerung. So hoch war die Rate noch nie seit Beginn der systematischen Aufzeichnungen im Jahr 2000. Viele Justizministerien sehen auf Nachfrage jedoch keinen Zusammenhang zwischen Corona und höheren Suizidraten.

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