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Kolumne

Sommerparadies

Ich habe die für mein Alter etwas zu
vornehme Angewohnheit, gerne zu sitzen.
Ich sitze in der Arbeit. Ich sitze zu Hause.
Und nachdem ich mir vergangenes Jahr
beim Fußball das Kreuzband sowie das
Innenband gerissen hatte und monatelang
nicht laufen konnte, verbrachte ich den
Großteil meiner Tage damit, noch mehr an
allen möglichen Orten herumzusitzen.
Ich saß so viel, dass es sich bald so anfühlte,
als hätte ich nie etwas anderes gemacht.
Am liebsten tat ich das freilich auf meinem
irre gut aussehenden lila Velourssofa.

Seitdem ich vor fünf Jahren in eine
bescheidene Dachgeschosswohnung im
Bamberger Altstadtviertel gezogen war,
besitze ich dieses Sofa. Es gehört zur
Gattung der Ecksofas und ist, wie bereits
erwähnt, mit einem irre gut aussehenden
lila Veloursstoff überzogen. An guten Tagen
bietet es Platz für fünf Personen, und als
wäre das nicht genug, gibt es eine Bettfunktion,
welche von meinen ausnahmslos kritischen
Übernachtungsgästen getestet und als
vorzügliches Schlaferlebnis befunden wurde.
Kurz, mein Sofa ist eine zertifizierte
Oase der Entschleunigung.

Ich pflege dieses Sofa so gut es geht. Ich
streichle es, umhege es, ich lese ihm Gedichte
von Paul Celan und Erzählungen von Kafka vor.
Zweimal die Woche sauge ich kleinste Partikel
aus dem Stoff. Aber am liebsten sitze ich
darauf und blicke durch ein Fenster in den
geheimen Garten einer Kirche. Die Kirche zählt
zu den beliebtesten Ausflugszielen der Stadt,
weshalb sich zu jeder Jahreszeit massenhaft
Touristen daran vorbeischieben, um ihrer
Begeisterung in langgezogenen "Ohs" und "Ahs"
Ausdruck zu verleihen. Den Garten aber sehen
sie nicht, und weil ich den Touristen
dahingehend überlegen bin, schaue ich mit
gönnerhaftem Blick herab.

In dem Garten sind die Sommer geradezu
paradiesisch. Kühle Steinmauern umgeben
seine berggrüne Oberfläche. Bis in die späten
Abendstunden fällt das Sonnenlicht durch
mannshohe, grazil angeordnete Apfelbäume,
deren Äste sich wölben wie dicke Männerbäuche
und den Äpfeln, die sie tragen, gerade so viel
Halt geben, wie sie brauchen, um nicht zu Boden
zu fallen. Es ist, als blicke man auf ein Gemälde
von Monet, das, wenn man es berührte, aus dem
Gleichgewicht geriete und in sich zusammenfiele.
Ich habe mich immer gefragt, wie ein solcher
Garten inmitten einer Stadt möglich ist, zumal ich
während all meiner Beobachtungen nie einen
Gärtner gesehen habe.

Weil ich ein neues Kreuzband bekommen hatte,
schaute ich jedenfalls noch öfter als sonst in den
geheimen Garten. Ich sah, wie die Apfelbäume
weiße Knospen hervorbrachten und später, wie sie
ihre Blätter abwarfen. Ich sah Menschen an dem
Garten vorbeiziehen, die aufrecht durchs Leben
schritten, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres
als gesunde Knie. Vergangene Woche sah ich
schließlich, wie ein Touristenpaar den Weg in den
Garten gefunden hatte. Sie machten Selfies, sie
pflückten Äpfel. Und als die beiden das Paradies
in diebischer Manier wieder verlassen hatten,
wusste ich, nein, ich verstand, dass es Zeit war,
in eine aufrechte Haltung zurückzukehren.
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Unser Redakteur lebt gerne in Bamberg. In
Höchstadt sucht er noch nach einer sagenhaft
guten Sitzgelegenheit.

https://www.infranken.de/lk/gem/sommerparadies-art-5049360