Andrea Corinna Schöne

freie Journalistin, Speakerin, Moderatorin, Autorin, Ingolstadt

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Barrierefreiheit: Innovation von heute - MedienNetzwerk Bayern

Barrierefreiheit ist Nachhaltigkeit und Innovation - von heute und für morgen. In deutschen Medienhäusern wird dies bisher noch wenig wahrgenommen. Wie sehen barrierefreie Medien aus? Welche Vorreiter gibt es bereits? Warum birgt Barrierefreiheit gerade für bayerische Unternehmen Innovationspotential?

Menschen mit Behinderung werden in den Medien oft nicht mitgedacht oder gar als Nutzer:innen wahrgenommen. Dies zeigte nicht zuletzt die Covid19-Pandemie oder die Flutkatastrophe im Ahrtal, als erst nach großem Protest der NDR-Podcast „Coronavirus-Update" auch ein Transkript bekommen hat oder während der Flutkatastrophe Warninformationen nicht nach dem Zwei-Sinne-Prinzip verfügbar waren. Nach diesem Prinzip der barrierefreien Gestaltung müssen mindestens zwei der drei Sinne Hören, Sehen und Tasten angesprochen werden.

Barrierefreiheit in den Medien

„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig."

Je nach Medium und Behinderung sehen die Anforderungen an barrierefreie Zugänge verschieden aus. Dies sind - vereinfacht zusammengefasst - die Grundpfeiler:

Hörbehinderte Menschen: Transkripte, Untertitel Gehörlose Menschen: Gebärdensprachdolmetschung Sehbehinderte und blinde Menschen: Bildbeschreibungen, durch Screenreader zugängliche Homepages, Sprachausgaben, Videodeskription Menschen mit Lernschwierigkeiten: einfache und leichte Sprache

Mediennutzung behinderter Menschen

Im Rahmen der Studie „Mediennutzung von behinderten Menschen" wurde im Auftrag der Medienanstalten und Aktion Mensch 2016 zum ersten Mal empirisch untersucht, wie behinderte Menschen Medien nutzen und insbesondere welche. Mit Abstand am meisten nutzen Menschen mit Behinderung als tagesaktuelles Medium das Fernsehen - am häufigsten aus Spaß, Entspannung und Information. Das Radio ist das am zweitmeisten genutzte Medium. Das Internet wird mehr von seh-, hör- und körperbehinderten Menschen genutzt als von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Auch hier spielen Mediatheken oder Videos auf anderen Plattformen eine große Rolle bei der Nutzung. Diese Informationen geben einen Hinweis darauf, wo behinderte Menschen sich selbst schon als User:innen wahrnehmen und wo Medienunternehmen dringend ansetzen müssen, um Marktlücken zu schließen. Hierzu dient auch die Zentrale Anlaufstelle für Barrierefreie Angebote (ZABA) als wichtige Einrichtung, bei der behinderte Menschen selbstbestimmt eine Beschwerde einreichen können, auf die Medienunternehmen reagieren.

Rechtliche Regelung von digitaler Barrierefreiheit und Medienangebote weltweit

Der Americans With Disabilities Act (ADA) aus dem Jahr 1990 machte den Startpunkt mit den Anti-Diskriminierungsgesetzen gegen behinderte Menschen in den Vereinigten Staaten. In dessen Ergänzungen sowie dem Telecommunications Act von 1996 und dem 21st Century Communications and Video Accessibility Act of 2010 haben behinderte Menschen einen Rechtsanspruch auf barrierefreie digitale Inhalte. Eine vergleichbare Rolle nimmt die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments ein - der sogenannte „European Accessibility Act" aus dem Jahr 2019. Das bedeutet: Bis 2025 müssen alle audiovisuellen Medien für jegliche User:innen zugänglich sein. Dazu zählen alle audiovisuellen Angebote der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten, ebenso wie Video-on-Demand-Angebote von internationalen Streaming-Diensten.

Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland bei barrierefreien Medienangeboten sehr schlecht ab. In Europa ist hier die BBC aus Großbritannien in einer absoluten Vorreiterposition. Sie stellt auf ihrer Homepage strikt ausgearbeitete Richtlinien vor. Im „Diversity & Inclusion Plan" für die Jahre 2012 bis 2023 wertet BBC die eigenen Ziele aus. Mit zwölf Projektbeschäftigten und behinderten Menschen in Leitungspositionen bildet das Medienunternehmen nach offiziellen Zahlen die statistische Verteilung behinderter Menschen innerhalb der Bevölkerung ab. Mit BBC Ability bildet das Unternehmen ein internes Netzwerk für Mitarbeitende mit Behinderung. In Deutschland gibt es insbesondere eine große Marktlücke bei tagesaktuellen Medieninhalten in einfacher und leichter Sprache. Vorreiter für Inhalte in einfacher und leichter Sprache sind der Deutschlandfunk mit dem Angebot „Nachrichten Leicht" und die Easy-Produkte der dpa.

Diese technischen Vorreiter für Barrierefreiheit kommen aus Bayern

Einige Technikunternehmen haben den innovativen Wert von Barrierefreiheit bereits erkannt und bieten zahlreiche Lösungen an.

Das unterfränkische Unternehmen hat eine Screenreader-Software, eine Assistenzsoftware für Menschen mit Sehbehinderung, entwickelt. Nutzer:innen können Kontrastverhältnisse, Schriftgrößen, Tonausgabe und Tastaturnavigation an ihren individuellen Bedarf anpassen. Im Blog der Unternehmensseite werden alle Funktionen genau erklärt. Über 25 Funktionen der Software sollen helfen, die Normen der Barrierefreiheit einzuhalten. Zusätzlich kann Eye Able als Button auf jeder Webseite oder in die Navigationsleiste eingebunden werden.

Entwickelt von Filmgsindl GmbH aus München stellt Eve einen Cloudservice dar, der automatisch Live-Untertitel in verschiedenen Sprachen aus gesprochener Sprache herstellt. Somit bietet Eve nicht nur einen barrierefreien Service an, sondern ebenso einen Live-Übersetzungs-Service. Eine künstliche Intelligenz lernt im Hintergrund mit und verbessert damit stetig die Übersetzung. Der Cloudservice kann für Veranstaltungen oder Vorträge gemietet werden. Zusätzlich arbeitet das Unternehmen an einer kostenfreien Version.

Unter dem Projektnamen AVASAG, was avatar-basierter Sprachassistent zur automatisierten Gebärdenübersetzung bedeutet, entwickelt ein Team von Forscher:innen der Universität Augsburg und fünf weiteren Partnern einen 3D-Avatar. Dieser soll Text in Gebärden umwandeln können. Mehr als 10.000 Paare aus Text und entsprechender Gebärde trainieren das System, um dann Texte automatisch in Gebärdensprache für den 3D-Avatar zu übersetzen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und läuft noch bis zum 30. April 2023.

Chancen und Herausforderungen für die bayerische Medienbranche

Medientechnologische Entwicklungen bieten zahlreiche Möglichkeiten, barrierefreie Medienangebote oder unterstützende Technologien zur Verfügung zu stellen. So ist es in Zeiten der Digitalisierung wesentlich einfacher, beispielsweise Untertitel oder Gebärdensprachdolmetschungen dazuzuschalten oder durch Sprachausgaben für blinde Menschen die Gerätebedienung zu vereinfachen. Hier besteht in Zusammenarbeit mit behinderten Menschen als Endnutzer:innen ein großes Innovationspotenzial für Technikunternehmen.

Dazu muss Barrierefreiheit im Sinne der Nachhaltigkeit und Usability & User Experience (UUX) aber erstmal sowohl von der Technik- als auch der Medienbranche wahrgenommen werden. Das setzt voraus, dass behinderte Menschen als Zielgruppe erfasst und ernst genommen werden. Laut Simone Miesner, stellvertretende Leiterin der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, wird die potentielle Zielgruppe hier zu eng gefasst. So brauchen auch ältere Menschen, die nicht mehr gut sehen oder hören können, Audiodeskription und Untertitel. Gleichzeitig schaffen beispielsweise Transkripte mehr Traffic auf den Seiten und machen Inhalte effektiver auffindbar in Suchmaschinen.

Um Barrierefreiheit nachhaltig in Medienangeboten umzusetzen, bedarf es einer Sensibilisierung des Teams selbst. Journalist:innen mit Behinderung sind nach wie vor die Ausnahme in der deutschen Medienbranche, da generell die Zugänge in die Ausbildung, den Arbeitsalltag und Tools selten barrierefrei sind. Hier ist der Bayerische Rundfunk innerhalb Deutschlands Vorreiter. Seit 2019 lernen alle Volontär:innen die Deutsche Gebärdensprache. Der Anreiz ging vom Nachwuchs selbst aus. Die gehörlose Journalistin Iris Meinhardt war Teil des Jahrgangs. Daraufhin beschlossen ihre Kolleg:innen sich weiterzubilden. Dieses Potential sollte Bayern als Medienstandort als Innovationsmotor für inklusive Medienausbildung nutzen und Vorreiter im deutschen Journalismus werden.

Quellen und nützliche Links:

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