Agnes Häberles Reich ist weiß gekachelt, etwa fünfzig Quadratmeter groß und riecht nach Wurst. Um halb acht am Morgen schnürt sie sich eine Schürze um die Hüfte und verreibt zwei Pumpstöße Desinfektionsmittel zwischen den Händen. Dann drückt sie den Knopf an einer ihrer Aufschnittmaschinen. Agnes Häberle, 29, leitet die Metzgerei Schneider in Plochingen. Sie liebt ihren Beruf und will ihn wieder beliebt machen.
Für ihr Vorhaben hat Agnes Häberle sich dem Verein „Wir sind anders" angeschlossen. Seine zwölf Gründungsmitglieder sind Frauen zwischen 23 und 31 Jahren, die in Fleisch machen und den Abwärtstrend in der Branche besorgt beobachten. Es mangelt an Nachwuchs, Wertschätzung und Innovationen.
Die erste Werbemaßnahme von „Wir sind anders" ist ein Fotokalender: Die Frauen posieren oben ohne, ihre Brüste kaschieren Hackebeil oder Schöpfkelle. Vorzeige-Feminismus ist das nicht gerade, „aber es geht ja um den guten Zweck", sagt Agnes Häberle und lacht. Die ersten 1000 Kalender sind schon verkauft, die zweite Auflage in Produktion. Ein Großteil wird an Metzgereien ausgeliefert.
Kennengelernt haben sich die zwölf Frauen in der Berufsschule, bei Fortbildungen oder auf Messen. Im Dezember 2015 trafen sie sich zum ersten Mal, ein halbes Jahr später hieß es: bitte lächeln. Danach ging die Arbeit so richtig los. In Eigenregie gestalten sie Homepage und Facebook-Auftritt; 1400 Fans zählt jener mittlerweile. Die Kosten für Kalender, Flyer, Homepage-Lizenz und mit dem Vereinslogo bestickte Blusen schießen die Frauen vor. Jeder Euro, der die Auslagen übersteigt, geht an die Nachwuchsförderung für das Metzgerhandwerk. Im kommenden Jahr wollen die Frauen ihre Spende auf der Stuttgarter Fachmesse Süffa im Rahmen einer Zeremonie übergeben.
Pinkfarbene Tussi-BratwürsteEine breiige Masse dreht ihre Runden im Fleischwolf, verströmt einen süßen Geruch. Agnes Häberle, Gloria Leidinger und Isabelle Frank stehen an der Maschine und rufen sich die Zutaten zu. Honig! Feta! Muskat! Ein Schuss Weißwein! Jetzt noch den Rote-Bete-Saft! Aus der pinkfarbenen Melange - Basis sind sieben Kilo Schweinefleisch - formen die Metzgerinnen eine neue Kreation: sogenannte Tussi-Bratwürste. Es gibt bereits Tussi-Maultaschen, Tussi-Burger und Tussi-Grillschnecken; an einer Tussi-Leberwurst tüftelt Agnes Häberle gerade. „Das Ergebnis kann man dann auf Facebook bewundern", sagt sie.
In dem sozialen Netzwerk teilen die Frauen fast täglich Einblicke in ihren Berufsalltag: ein Foto von Agnes Häberles Muttertags-Wurstplatte, eine Collage der zwölf Frauen im Deutschlandtrikot vor dem WM-Spiel gegen Polen oder ein Video über die Produktion der Tussi-Bratwurst. Mit einer WhatsApp-Gruppe fing alles an, sie erleichtert den Austausch innerhalb des Vereins. „Wir fragen einander um Rat, wenn wir bei etwas nicht weiterkommen, und meistens fällt uns gemeinsam eine Lösung ein", erzählt Isabelle Frank. Was tun, wenn das Zeltdach des Marktstands ein Loch hat? Wie viel Gramm Rote Bete kommen noch mal in die Füllung der Tussi-Maultaschen?
Isabelle Frank liegt das Metzgerhandwerk sozusagen im Blut. Ihr Vater Werner Frank ist Fleischermeister mit einer eigenen Metzgerei samt Partyservice in Stuttgart-Botnang, ihre Mutter Monika, eine gelernte Bürokauffrau, schulte nach der Hochzeit zur Fleischerei-Fachverkäuferin um. Sieben der zwölf „Wir sind anders"-Frauen arbeiten im familieneigenen Betrieb.
Agnes Häberle gehört zu den fünf Frauen, die auf verschlungeneren Wegen zu diesem Beruf gefunden haben: Als Schülerin verdient sie sich ein paar Euro als Babysitterin dazu – bei Familie Simon, die eine Metzgerei in Erkenbrechtsweiler betreibt. Bald hilft sie auch beim Catering aus und entdeckt ihr Talent. Bei einem Nachwuchswettbewerb gewann sie 2009 drei Goldmedaillen im Wurstplattenlegen. Stolz zeigt sie Fotos von zu Lilien geformten Chicorée-Blättern nebst Rauten aus Pumpernickel und Frischkäse.
Falsche AssoziationenMit ihrer Berufswahl steht Agnes Häberle mittlerweile als Exotin da. Zahlen belegen, wie schlecht es um die Metzgerzunft steht: 1995 zählte der Zentralverband des Deutschen Handwerks noch 51 764 Bäcker- und Fleischerbetriebe, 2015 waren es kaum mehr als halb so viele. Und selbst die verbliebenen 26 603 Betriebe finden nicht mehr genügend Personal: Im vergangenen Jahr blieb jeder fünfte Ausbildungsplatz in Metzgereien unbesetzt. Ein Grund dafür ist, dass immer mehr Schulabgänger das Abitur machen - aktuell 41 Prozent des Jahrgangs, 2006 waren es noch 30 Prozent.
Das größere Problem ist das schlechte Image der Branche in einer Republik, in der sich bereits jeder zehnte Einwohner vegetarisch oder vegan ernährt. Laut dem Bund für Lebensmittelkunde ist der Umsatz mit Tofu und Seitan in den vergangenen Jahren um 88 Prozent gestiegen, dagegen ist der Fleischkonsum hierzulande seit 2013 leicht rückgängig.
Ein Gegentrend lässt Metzger hoffen, er kreist um die Begriffe Bio, Slowfood und Regionale Produkte. Mit „Beef“ gibt es seit 2009 ein Magazin, in dem es nur um Fleisch geht, und Food-Messen und -festivals sprießen in ganz Deutschland aus dem Boden.
Blutverschmierte Hände, Keule und Kittel - das falle den meisten Menschen als erstes ein, wenn sie an eine Metzgerin denken, ist Isabelle Frank überzeugt. In Wirklichkeit habe eine Fleischerei-Fachverkäuferin mit dem Schlachten selbst nichts zu tun. Und als Verkaufsleiterin hantiere man sogar öfter mit Zahlen als mit Schnitzeln.
Noch geschwind ein SelfieIsabelle Frank drückt den Knopf der Wurstbefüllungsmaschine, spannt mit der linken Hand den Darm um die dünne Röhre. Neben ihr breiten Agnes Häberle und Gloria Leidinger die sich kringelnde Wurstschlange auf der Arbeitsfläche aus und knipsen sie zu Bratwurst-Paaren ab. Frank und Leidinger, beide 24 Jahre alt, kennen sich aus der Berufsschule Hoppenlau im Stuttgarter Westen, über Probleme in ihren Betrieben reden sie offen miteinander. „Wir haben seit drei Jahren keine Auszubildenden mehr", sagt Gloria Leidinger. „Höchstens wird mal jemanden angelernt. Vor drei Jahren hat sogar eine Diplompsychologin bei uns ausgeholfen."
Wer sich in Metzgereien umhört, stößt oft auf solche Anekdoten: Agnes hat schon mehrere Reinigungsfachkräfte zur Verkaufshelferin angelernt, Isabelle gibt zu, dass „der Papa seit drei Jahren nicht mehr sucht“. Das Gute an Quereinsteigern, da sind die drei Frauen sich einig, ist: Sie sind motiviert. „Wir brauchen gut qualifizierten Nachwuchs, der Anspruch ist nicht, einfach irgendjemanden in den Beruf zu locken“, sagt Gloria Leidinger, „Azubis sind das Aushängeschild eines Betriebs.“
Nach der Produktion ist vor der Präsentation. Gut fünfzig Bratwürste liegen auf der Arbeitsfläche aus Edelstahl. Behutsam legt Isabelle einige davon auf eine Schieferplatte mit Tussi-Aufsteller; Agnes spickt die Würste mit Deko-Rosen und Thymianzweigen.
Bevor sich Agnes Häberle, Gloria Leidinger und Isabelle Frank an diesem Tag voneinander verabschieden, schießen sie ein Selfie für die „Wir sind anders"-Facebook-Seite, um 19.43 Uhr stellen sie es online. Zu sehen sind drei junge Frauen, die vor einer weiß gekachelten Wand lächeln – vereint im Kampf für das Metzgerhandwerk.
Text und Fotos: Ana-Marija Bilandzija