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Reportage

Beinahe offline

Weil ihnen ihr Besitz zur Last wird, entscheiden sich manche Menschen für ein Leben des Verzichts. Einer von ihnen ist Silvio Roßberg, der seit vier Jahren auf einem Mittelalterhof wohnt. Laptop und Mikrowelle sind aber erlaubt.

Muskulöse Arme pressen Wasser aus einer selbst gebastelten Pumpe. Dicke Haarzotteln wippen im Takt mit. Wasser schießt nach oben, das alte Metall quietscht. Mit dem Handrücken wischt sich Silvio Roßberg über die Stirn. Tatoos in Form von Ranken schmücken seine Unterarme, sie umschlingen den Namen seiner Frau Catrin. Unter seinen Nägeln klebt Erde, seine Haut ist gebräunt. Er trägt Kleidung im Mittelalterstil, „weil die bequem ist“.

Silvio Roßberg ist 48 Jahre alt. Seit 2008 lebt er mit seiner Frau Catrin auf dem Mittelalterhof  Erdenpfad in Ostthüringen. Ein starker Kontrast zu seinem alten Leben: Silvio arbeitete als Zivilfahnder, nebenberuflich organisierte er Reisen. In der Freizeit stählte er seine Muskeln im Fitnessstudio. Sein Körper hielt dem Leistungsdruck nicht mehr stand – ein Halswirbelbruch war der Auslöser für seinen Neuanfang. Er gab seinen Beruf auf, suchte eine neue Herausforderung und fand sie auf einem Hof in Göhren-Döhlen.

Das Grundstück ist mehr als 6000 Quadratmeter groß. Auf dem Mittelalterhof nutzen Silvio und Catrin viele Räume überhaupt nicht. Das bedeutet Platz für viele Menschen: „Wir sind offen für neue Leute und schreiben das auch im Internet aus“, erzählt Silvio. „Wer bei uns wohnt, sollte als Gegenleistung ungefähr drei Stunden am Tag mitarbeiten. Gäste, die zudem bei uns essen, sollten etwa fünf Stunden mithelfen.“

Silvio stapft in seinen blauen Gummischuhen über die Wiese. Vorbei an einem Dutzend Hühnern, Enten und einem grünen Gewächshaus. Hier baut er Gurken und Kräuter an, draußen wachsen Erdbeeren. Während Silvio sich um den Hof kümmert, arbeitet Catrin als Kinderpädagogin in Jena. Das einfache Leben macht die beiden glücklich. „Wir sind angekommen. Hier geht es nicht um Leistung und Geld, sondern um uns“, sagt Silvio.

Dass weniger manchmal mehr ist, hat auch Soziologe und Glücksforscher Alfred Bellebaum aus Koblenz festgestellt. „Unsere Gesellschaft ist übersättigt. Wenn man überlegt, was man in seinem Haushalt wirklich braucht, könnte man wahrscheinlich 90 Prozent davon wegschmeißen.“

Der sogenannte „Simplicity“-Trend (deutsch: Einfachheit) kommt aus den USA. Mittlerweile ist daraus ein ganzer Marktzweig entstanden. Selbsthilfebücher wie „Simplify your Life“ von Tiki Küstenmacher und Lothar Seiwert verraten, wie man seine Handtasche, seinen Haushalt  oder gleich sein ganzes Leben entrümpeln kann. Das Buch „Walden“ aus dem Jahr 1854 ist ein Klassiker, wenn es um alternative Lebensführung geht. Der Autor, Henry David Thoreau, floh vor der amerikanischen Industriegesellschaft in den Wald und schrieb seine Gedanken und Erlebnisse als Waldmensch auf.

Das Grimm‘sche Märchen „Hans im Glück“ lehrt Kinder seit Jahrhunderten, wie befreiend es sein kann, sich von seinem Besitz zu lösen. Erst als Hans alles verliert, fühlt er sich frei und verspürt keinen Mangel mehr. Er lernt die Tatsache zu akzeptieren, dass alles seine Zeit hat, dass Dinge zu ihm und auch wieder von ihm weg finden.

Für Heidemarie Schwermer war es ebenfalls eine Befreiung, sich von ihrem Besitz zu lösen. Ein Umzug nach Dortmund hat der 70-Jährigen das Ausmaß der menschlichen Verschwendungssucht vor Augen geführt: „Ich war erschrocken, wie viele Obdachlose es hier gibt. Ich konnte es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, dass andere hungern, während ich im Überfluss lebe.“ Also startete sie einen Versuch: ein Jahr ohne Geld.

1997 wagte sie den radikalen Schritt: Sie gab ihre Wohnung auf, verschenkte ihre Möbel, kündigte alle Bankkonten und Versicherungen und gab ihre Stelle als Psychotherapeutin auf. „Einfach ist so ein Ausstieg nicht“, sagt Glücksforscher Bellebaum, „man muss auf viele Annehmlichkeiten verzichten. Das sind wir nicht gewohnt.“

Heidemarie fällt der Verzicht nicht schwer. Was ursprünglich ein Versuch war, wurde ihre Lebensphilosophie – seit 16 Jahren pilgert Heidemarie von Ort zu Ort und erzählt ihre Geschichte. Ihre Rente verschenkt sie an bedürftige Menschen. „Hier habe ich alles, was ich brauche, und das macht mich reich“, sagt Heidemarie.

Ermöglicht wird ihr Lebensstil erst durch Bekannte: Sie bieten ihr eine Unterkunft, Mitfahrgelegenheiten oder eine warme Mahlzeit. Als Gegenleistung fegt Heidemarie ihre Höfe, kocht oder wäscht ab. Manchmal berät sie unentgeltlich und darf im Gegenzug das Internet nutzen.

Den Wert der Gemeinschaft hat auch Jürgen Wagner für sich erkannt. Wer ihn kennt, kennt ihn als den Mann aus dem Wald. Als den, der in einer Jurte wohnt oder in einer Höhle. Der im Fluss badet und dort sein Mittagessen fängt. Der seit Jahren keinen Geldschein in der Hand hatte und nur von dem lebt, was er findet oder geschenkt bekommt. Aus Jürgen Wagner ist vor mehr als zwanzig Jahren Öff Öff geworden.

Er wusste schon früh, dass er ein alternatives Leben führen will. Auch heute, mit 48 Jahren, bereut er seine Entscheidung nicht. Er hatte den Egoismus unserer Gesellschaft satt. Nach seinem Theologie- und Philosophie-Studium lebte er freiwillig als Obdachloser. „Ich bin etwa fünf Jahre lang mit Plakaten von Stadt zu Stadt gezogen, als Wanderprediger, ähnlich wie Buddha oder Jesus.“ 1991 nahm Öff Öff seinen Personalausweis ein letztes Mal in die Hand. Er steckte ihn in einen Briefumschlag, adressierte ihn an den Bundespräsidenten, brachte ihn zur Post und schickte ihn ab  – Art, dem Staat zu zeigen, was er von ihm hält.

Im selben Jahr gründete er die sogenannte Schenkerbewegung. Öff Öff und seine Anhänger fordern soziale Harmonie statt Leid. Das bedeutet: ein friedvolles Miteinander und gegenseitiges Beschenken. „Ich lebe meinen Mitmenschen ein Leben ohne Gewalt, Herrschaft und Leistungsprinzip vor. So trage ich globale Verantwortung und fördere globale Liebe.“

Er verbrachte mehrere Monate in der Natur. Als Waldmensch wurde er durch die Medien bekannt. Die Geburt seines Sohnes Aljoscha führte ihm vor Augen, dass er nicht länger auf ein geregeltes Familienleben verzichten will. Seither wohnt er mit seiner Frau Anke und seinem Sohn in einem Reihenhaus und genießt wieder die Vorzüge des bürgerlichen Lebens. Von hier aus hält er die Schenkerbewegung am Leben.

Er macht keinen Hehl daraus, dass er nicht völlig unabhängig von der Gesellschaft lebt. Das Internet zum Beispiel möchte er nicht missen. Täglich surft er im Netz, führt mehrere Blogs, auf denen er sein Privatleben und seine Ideologie verbreitet. In Foren und sozialen Netzwerken sucht er den Kontakt zu Gleichgesinnten.

Auch Heidemarie ist Austausch wichtig. Anderen Meinungen gegenüber ist sie offen. „Meinen Lebensstil habe ich bewusst gewählt. Wenn ich irgendwann keine Lust mehr habe, kann ich mein Leben ja auch wieder umstellen.“ Momentan vermisst sie jedoch nichts. Denn auch ein Leben ohne Geld kann komfortabel sein: Auf der Straße schläft sie nie, online und auf dem Handy ist sie rund um die Uhr erreichbar, und gelegentlich schenken ihr Bekannte Zugtickets für Ausflüge.

Auch die Roßbergs haben sich einen Teil dieser Normalität bewahrt. In ihrem Haupthaus blubbert eine Hochglanz-Eckbadewanne. „Eigentlich wohnen wir in einer spießigen Altbauwohnung“, sagt Silvio. In der Küche stechen moderne Geräte ins Auge: Silvio und Catrin haben neben einem Backofen, einem Ceranfeld und einem Mixgerät auch eine Mikrowelle – der Inbegriff modernen Kochens. Kochens. Nur ein Blick aus dem Fenster erinnert daran, dass man sich auf einem Mittelalterhof befindet. Bei Roßbergs klingelt es – Catrin ist zurück. Sie stellt zwei kleine Milchkannen aus Blech auf den Boden. Ein zitronengelbes, bodenlanges Kleid umspielt ihren zierlichen Körper, ein paar ihrer blonden Haarsträhnen ragen aus dem Dutt heraus. Silvio schreitet auf sie zu, umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Er legt seine Hand um ihre Hüfte und begleitet sie in die Küche.

„Müssen wir morgen eigentlich wieder Brot backen?“, fragt Catrin. „Setz dich erst einmal“, antwortet Silvio und zieht ihr einen Stuhl zur Seite. Dann essen sie zu Abend – es gibt Fladenbrot und abgepackten Schafskäse von Aldi. „Milchprodukte müssen wir noch einkaufen. Eine einzelne Kuh zu halten wäre Tierquälerei“, erklärt Silvio. „Also schaffen wir es noch nicht, vollkommen autark zu leben. Aber was ist schon schlimm daran?“

Silvio setzt sich in seinem Wohnzimmer in einen dunkelbraunen Ledersessel und lässt den Blick über die vollen Bücherregale schweifen. Zwischen den grün oder braun eingebundenen Büchern lugt ein fußballgroßer Totenkopf hervor, ein Säbel, eine Mandoline, eine Geige und weitere Instrumente. „Ob ich für immer hier bleiben werde? Ich glaube nicht.“ Lässig überkreuzt Silvio die Hände am Hinterkopf. „Im Moment ist alles perfekt. Aber falls es sich eines Tages nicht mehr gut anfühlen sollte, dann ziehen wir weiter. Ich sehe mich irgendwie immer noch am Pazifik.“

Auch Öff Öff plant derzeit seinen nächsten Ausflug. Bald will er in den Wald zurückkehren. Dort baut er sich dann eine neue Jurte. Heimat ist für ihn jeder Ort, an dem freie und teilende Menschen leben. Dieses Mal bleibt er aber in der Nähe seiner Familie und wählt den hessischen Wald. Für immer? Darauf möchte er sich nicht festlegen: „Wenn mir jemand einen guten Grund nennt, normal zu leben, werde ich es tun.“

Text: Ana-Marija Bilandzija, Tatjana Brenner und Iris Jilke (Einsteins Magazin 'Heimat', 2012)
Foto: Stefan Finger