In einer spielerischen Szene zu Anfang des Films fragt die Hauptfigur, Maria, ihre kleine Schwester ab. Thema ist die Menschenrechtserklärung, die diese für die Schule auswendig lernen muss.
„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“, fährt Maria fort, „Jeder hat das Recht, sich ... frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen“.
Es ist kein Zufall, dass sich die Schwestern am Ende in die Haare geraten. Die Familie, so wie sie das neue griechische Kino darstellt, ist der eine Punkt, an dem Freiheit endet. Der andere Faktor, der die persönliche Freiheit beschränkt, liegt in der aktuellen politischen Situation Griechenlands begründet. 68.000 kleine und mittlere Unternehmen haben in den vergangenen drei Jahren Konkurs angemeldet, tönt es aus dem Autoradio, während Maria mit ihren quengelnden Kindern durch ein unwirtliches Athen fährt. Erst später im Film wird klar, wie sehr der wirtschaftliche Niedergang des Landes auch ihre persönliche Geschichte beeinflusst. Denn dass es nicht vordergründig um Politik geht, heißt keinesfalls, dass der Film unpolitisch ist, so Regisseur Syllas Tzoumerkas.
Die Geschichte spielt zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Land. In einer Situation, die von sich aus Charaktere gebiert, die sich am Rand des Abgrunds bewegen. Das darzustellen war mir wichtiger als der rein politische Aspekt.
Das Persönliche als Parabel für das Politische – und andersrum. Die Mutter von Maria, Inhaberin eines Gemischtwarenladens, hat den Weg der Realitätsverweigerung gewählt. Die Krise macht es ihr unmöglich, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Der Kredit für die Wohnung – in einem trostlosen Viertel in unmittelbarer Nähe der Athener Müllhalde - und die Steuern für den Betrieb; seit drei Jahren sammelt und versteckt die Mutter die Zahlungsaufforderungen. Als ihre hilflose Taktik auffliegt, ist es zu spät. 160.000 Euro Schulden türmen sich auf den Schultern der kleinbürgerlichen Familie.
Zum Zusammenbruch der Famlienfinanzen kommt Marias persönliche Krise. Ihr Mann ist Seemann. Er ist entweder nicht da, oder er ist weg – fasst sie ihr Eheleben einmal zusammen. Das Jurastudium hat sie schon längst zugunsten der Eltern aufgegeben – irgendjemand muss sich ja um das Geschäft kümmern, alle anderen Familienmitglieder fallen aus. Als ich klein war, hatte mir niemand gesagt, dass mein Leben so aussehen würde, sagt sie in einem großartigen Monolog.
O-Ton Film (OV): Ich habe ein lächerliches Leben gelebt, und ich weiß nicht, wie ich es ändern soll. (....) Ich habe drei Kinder, die ich nicht mehr sehen möchte. Und meine Gewissensbisse sind weniger schlimm als die Vorstellung, weiter zu machen wie bisher.
Als diese zwei Krisen aufeinandertreffen, die persönliche und die politisch-finanzielle, entsteht ein explosives Gemisch. Maria wird die Rolle, die ihr die Gesellschaft vorgegeben hat, radikal abstreifen. Wortlos verläßt sie Mann und Kinder, und das Geld, das die Familie braucht, um ihre Schulden abzubezahlen, wird sie aufbringen, indem den Herkunftsort ihrer Eltern verrät und gegen Bezahlung eine Brandstiftung organisiert. Die Zerstörung der Herkunft wird zum Ticket in die Zukunft.
Regisseur Syllas Tzoumerkas erzählt seine Geschichte mit zahlreichen Rückblenden und minimalistisch in der Form. Kein Wort, kein Bild, keine Geste zu viel. Es ist ein Verdienst des Films, der fast ein Kammerstück ist, im Unausgesprochenen das Drama eines ganzen Landes einzufangen. Mit seinem eigenwilligen und harten Erzählduktus gliedert sich A Blast außerdem in die Reihe neuer griechischer Filme ein. Einem Kino, geboren aus dem dringendenBedürfnis, Geschichten zu erzählen. Einem Kino, das seine geographische Isolation durchbrochen und seine ganz eigene hyperrealistische Sprache gefunden hat. Weit jenseits des Mainstream, linearer Erzählstrukturen und gefälliger Bilder. Und vor allem weit weg von allen Klischees. Im neuen griechischen Kino ist selbst das Sommerlicht ein kalter Feind.
Während das Dorf, aus dem ihre Vorfahren stammen, in Flammen aufgeht, flieht Maria. Vor dem Verbrechen, vor der Schuld, vor der eigenen Vergangenheit. Am nächsten Morgen und nach einem Crash mit dem Wagen steigt sie aus und geht – nur mit einem Rucksack auf den Schultern - zu Fuß weiter, in eine ungewisse Zukunft. Ich wünsche mir ein Leben, hatte sie in ihrem Monolog gesagt, das, wenn schon nicht weniger vergeblich, so doch wenigstens weniger schmerzvoll ist.
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