Ein Kaffee mit Amalia gehörte früher zu meiner Woche dazu. Mit früher meine ich vor der Krise. Auch 2011, 2012 trafen wir uns noch regelmäßig. Dann wurden unsere Treffen seltener. Bis sie Klartext redete. Sie sei zur Zeit etwas klamm, sie warte noch auf ihr Januargehalt. Es war März. 2013
Amalia arbeitete damals als Verkäuferin in einer Buchhandlung. Dem Buchhalter und der zweiten Verkäuferin schuldete der Inhaber ebenfalls Geld. Dann wurde die zweite Verkäuferin entlassen, Amalia übernahm ihre Arbeit. Zu dem Zeitpunkt schuldete der Arbeitgeber ihr 4 Monatsgehälter.
Und Amalia ging weiter zur Arbeit. Von Montag bis Samstag, wie gehabt. Wenn sie nachfragte, wann sie mit ihrem Geld rechnen könne, hieß es: Du kannst froh sein, dass du überhaupt Arbeit hast. Der Ton sei rau geworden, erzählte sie mir bei unseren nunmehr seltenen Treffen. Und Amalia? Sie passte ihre Ansprüche der Realität an. Wenn ich sie fragte, warum sie das mitmachte, sagte sie, so sei sie wenigstens versichert. In Griechenland ist der Versicherungsschutz an den Arbeitsplatz gekoppelt.
Damals hatte Amalias Mann noch Arbeit. Sein Gehalt war zwar sukzessive gekürzt worden, aber fürs Wesentliche reichte es noch: Miete, Strom, Telefon, Ausgaben für die Kinder. Manchmal, wenn das Geschäft gut gelaufen war, bekam Amalia am Freitag einen Vorschuss auf die geschuldeten Gehälter. Mal 50 Euro, mal 100 Euro. Gerade genug, um die Lage nicht eskalieren zu lassen. Selbstverständlich schaute sie sich nach einem anderen Arbeitsplatz um. Doch bei 27 Prozent Arbeitslosigkeit - offiziell - hatte sie wenig Chancen. Und was wäre, wenn der neue Chef auch nicht zahlen würde?, fragte sie. Damals wurde die Zahl der Arbeitnehmer, die gar nicht oder mit Monaten Verspätung bezahlt werden, auf 800.000 geschätzt. Heute sollen es 1,3 Millionen sein, die zwar zur Arbeit gehen aber keinen Lohn bekommen. 1,3 Millionen, das wäre jeder dritte Arbeitnehmer in Griechenland.
Vor einem halben Jahr hat Amalias Mann seine Arbeit verloren. Sie sei unterwegs, hechelt Amalia ins Handy, wenn ich sie mal erreiche. Ihre Tage sind lang geworden. Mal muss sie zur Strombehörde, mal hat sie einen Termin bei der Telefongesellschaft. Nicht, um ihre Schulden dort zu begleichen. Sondern um über deren Stundung zu verhandeln. Dafür verpflichtet sie sich, zu zahlen, was sie kann. Mal 20 Euro, mal 30, als Zeichen guten Willens.
Kürzlich habe ich einen Kuchen gebacken und beherzt bei Amalia geklingelt. Sie sehen ihre Freunde kaum noch, sagten Amalia und ihr Mann. "Zu viele Sorgen", setzte Amalia erklärend hinzu, während sie den Kuchen servierte. Was sie meinte, wurde mir schnell klar. Wir saßen keine zehn Minuten beieinander, da klingelte ihr Handy. Festnetz haben Amalia und Giorgos schon lange nicht mehr. Es war die Vermieterin. Das Monatsende stehe an, auch sie habe offene Rechnungen: Telefon, Strom, Finanzamt, die Nachhilfe für die Kinder. Amalia wiegelte ab. Jedes Mal, wenn sie einen Vorschuss auf ihr Gehalt bekommt, erklärte sie mir, nachdem sie aufgelegt hatte, versuche sie einen anderen Schuldner zu besänftigen. Die Miete haben sie schon seit drei Monaten nicht mehr bezahlt.
Auf dem Esstisch lag die Zeitung. Auf der Titelseite prangte eine rote Zahl. Auf fast 300 Milliarden Euro belaufen sich die Privatschulden in Griechenland, hieß es da. Und jeden Monat komme eine weitere Milliarde hinzu. Amalia schob die Zeitung beiseite. Gegenüber diesen Zahlen sagte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, nähmen sich ihre Schulden geradezu lächerlich aus.
Dann habe ich lange nichts mehr von Amalia gehört. Kürzlich bin ich ihr zufällig auf der Straße begegnet. Die Buchhandlung habe dichtgemacht, erzählte sie mir. Am Ende schuldete ihr der Inhaber sieben Monatslöhne. Und die Abfindung selbstverständlich. Sie solle einen Rechtsanwalt einschalten, riet ich ihr. Und von welchem Geld, fragte Amalia, solle sie den bezahlen?
Beitrag hörenStand: 04.11.2014, 09.06 Uhr