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Radio-Beitrag

Lyrikfieber

Lyrik als Wegbegleiter in schwierigen Zeiten – in Griechenland, das seit Ausbruch der Krise einen Kulturboom erlebt, hat auch die Lyrik Renaissance: Gedichtabende in Galerien, Cafés, Bars, auf öffentlichen Plätzen. Lyrikmarathons und Lyrikrezitationen. Trotz oder wegen der Krise?

 

Eine dunkle Bühne, davor ein Tisch. Ein Übersetzer liest aus seinen Übertragungen: Gedichte von Emily Dickinson, Zeami Motokiyo, Sandro Penna, WH Auden. Wenig einleitende Worte, keine Diskussion - Lyrik pur. Vor vier Jahren hat der Dichter Panayiotis Ioannidis diese Lesungen ins Leben gerufen.

 

Damals steckten wir, sagen wir mal, schon bis zum Knie in der Krise, und meine Idee war, in der Lyrik Kraft zu finden. Außerdem wollte ich, dass die Gedichte alleine für sich stehen. Bei den Lesungen, die es damals gab, überwogen meist die literarische Analyse oder die Musik. Unsere erste Veranstaltung damals war also eine Einladung an neun Dichter, schlichtweg ein Gedicht vorzutragen, das sie in schwierigen Zeiten stützt.

 

In Griechenland hat Lyrik traditionell einen höheren Stellenwert als etwa in Deutschland, sie ist auch deutlich populärer. Möglicherweise aber hat die Krise dieses Interesse noch verstärkt. Für diesen Besucher etwa ist Lyrik ein wichtiges Instrument, um den Krisenalltag zu bewältigen.

 

Das, was heute in Griechenland passiert, ist unerträglich. Nicht nur die wirtschaftliche Not, die nicht zu unterschätzen ist. Aber auch die Sprache verfällt, in der Politik und in der Öffentlichkeit. Das Niveau sinkt beständig und gibt Wut und Zorn Raum. Deshalb ist es so wichtig, dass wir eine Sprache kultivieren, die präzise ist und ehrlich. Eine Sprache, die Horizonte öffnet, die Dinge benennt und sich nicht im Allgemeinen verliert.

 

Die Umstehenden nicken, überlassen aber ihm das Wort, denn Christos Siorikis schreibt auch selber. Angeregt durch das allgemeine Lyrikfieber?

 

Es war nicht der Auslöser. Ich würde so oder so schreiben. Aber es ist ein rettendes Umfeld. Es ermutigt uns, die wir die Lyrik lieben, die wir Lyrik lesen, Lyrik schreiben, uns dazu zu bekennen, auch im Alltag. Und sie weiter zu geben. Zum Beispiel jemanden auf ein Gedicht, das uns gefällt, aufmerksam zu machen, es zu rezitieren, ohne dass es uns peinlich wäre.

 

Das wiedererwachte Interesse an Lyrik spiegelt sich auch in der Buchproduktion wieder. Nur: genaue Zahlen gibt es nicht, denn das Nationale Buchzentrum, das alle Neuerscheinungen registrierte, wurde im Zuge der Krise abgeschafft. Sicher aber ist: Lyrik ist chic, Lyrik ist in – sagt auch Dimitra Ioannou, die ein Internetportal für experimentelle Literatur kuratiert. Diese Mode, die vor einigen Jahren von den USA nach Europa gelangte, ist in Griechenland auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Und so beobachtet auch Dimitra Ioannou eine gesteigerte Lyrikproduktion in Griechenland. Deren Inhalt habe zwangsläufig auch mit der Krise zu tun.

 

Lyrik ist abstrakt – oder sagen wir: sie kann abstrakt sein. Und diese Abstraktion filtert den Lärm der Aktualität und ermöglicht uns eine klarere Sicht der Dinge. Und so bietet gute Lyrik nicht nur eine soziologische oder eine psychologische oder eine politische Analyse, sondern all das zusammen. Und noch viel mehr. Man könnte auch sagen: sie schließt die Lücken im Diskurs der Soziologen, der Psychologen, der Politologen und der Finanzexperten.

 

Ob die heutige Lyrikproduktion in Griechenland politisch ist? Sie kann es sein, sagt Dimitra Ioannou. Die produzierten Inhalte reflektierten die Aktualität – allerdings, so ihre Kritik, transportiert durch eine Sprache, die der Vergangenheit verhaftet bleibe. Es sei an der Zeit, die Väter zu töten und die kreativen Kräfte frei zu setzen. Etwas, was allen zugute kommen würde – denn Kunst und Lyrik seien im Griechenland der Krise ein Lebenselixier:

 

Die Welt, wie wir sie kannten, ist im Umbruch, wir erleben ein Epochenende. Gute Kunst, gute Lyrik sind da wie ein Mikronährstoff. Klein in der Menge, aber essentiell. Wir brauchen sie, um anders zu denken. Um einer Realität beizukommen, die sich rasend schnell und radikal verändert. Denn das hier ist keine vorübergehende Krise, es ist eine Art undeklarierter Krieg. Und dass wir uns frei bewegen können, ändert nichts daran. In Wirklichkeit sind wir unfrei. In diesen schwierigen Zeiten kann uns die Lyrik helfen zu überleben.

ARD / WDR5 / Scala / 24.05.2016