Man war sehr freundlich zueinander und hat, wie es in diesen Fällen halt häufig so ist, auch ein wenig aneinander vorbeigeredet. So haben es zumindest die Griechen empfunden, als sich Bundespräsident Joachim Gauck für nicht weisungsbefugt erklärte, was Stellungnahmen zu griechischen Wiedergutmachungsforderungen angehe. Vor allem im Fall des Besatzungskredits, einem Kredit in Höhe von 476 Millionen Reichsmark, den die Nationalsozialisten Griechenland abgepresst hatten, hätten die Griechen gerne klarere Worte gehört. Immerhin fällt der Besuch des Bundespräsidenten und die Entschuldigung von Lingiades in eine Zeit, in der das deutsch-griechische Verhältnis stärker belastet ist als je zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Gesperrtes Athener StadtzentrumWie stark, das zeigt der Umstand, dass zum Besuch von Joachim Gauck in Athen das gesamte Stadtzentrum für Versammlungen gesperrt war. Vor wenigen Jahren wäre es absurd erschienen, die griechischen Bürger wegzusperren, weil Staatsbesuch aus Deutschland erwartet wird. Nun ist es die Regel, egal ob Angela Merkel nach Athen fährt, Wolfgang Schäuble oder eben der deutsche Bundespräsident. Darauf kann Deutschland nicht stolz sein.
Als Gewerkschaftsvertreter dem griechischen Finanzminister trotz des Versammlungsverbots eine Petition übergeben wollten, in der es um das Leid der immerhin rund anderthalb Millionen Arbeitslosen ging, das ist fast jeder dritte Erwerbsfähige in Griechenland, wurden sie von der Polizei ohne Pardon niedergeknüppelt. Das Foto eines am Boden liegenden älteren Herrn, umringt von vermummten, bewaffneten Sicherheitskräften in schwerer Montur ging durch die social media. Darauf kann Griechenland nicht stolz sein.
Furcht vor und hinter den KulissenWährend man sich hinter den Kulissen also vor den Bürgern fürchtete, vor den Kulissen Szenen der Versöhnung. Jedes Wort von Bundespräsident Joachim Gauck, sowohl in Athen als natürlich auch in Lingiades, wurde von der griechischen Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt. In manch griechischer Tageszeitung hat es der Besuch von Lingiades dennoch nicht auf die Titelseite geschafft. Denn Worte, Gesten bleiben hohl, wenn sie nicht getragen werden von einem Gesinnungswandel. Das macht Willy Brandts Kniefall von Warschau zum Meilenstein deutscher Nachkriegsgeschichte, denn in dieser Geste kulminierte eine neue Ostpolitik, gegen Widerstände, Ängste und Bedenken im eigenen Land durchgesetzt.
"Neue Südpolitik"Wenn die Entschuldigung von Bundespräsident Joachim Gauck auch nur ansatzweise ähnliche Bedeutung erhalten soll, dann muss sie Ausgangspunkt werden für eine neue Partnerschaft zwischen Griechenland und Deutschland. Man könnte es auch eine neue "Südpolitik" nennen. Bundespräsident Joachim Gauck könnte sich zum Garanten machen für einen Richtungswechsel in der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Denn viel zu lange wurde Stimmung gemacht, in der Politik wie in den Medien - und zwar nicht nur im Boulevard. Es wird nach der Krise eine kritische Evaluation der Berichterstattung auch vieler Mainstream-Medien und der dort verbreiteten Mythen nötig sein. Da wird sich mancher Bürger, hüben wie drüben, wundern, wie facettenreich die Frage von Schuld und Schulden doch ist. In dieser neuen Partnerschaft, einer Partnerschaft, in der man wieder auf Augenhöhe miteinander diskutieren würde, wäre kein Platz für Nazi-Vergleiche, wie die, mit denen Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem letzten Besuch in Athen empfangen wurde. In dieser neuen Partnerschaft müsste neben dem griechischen Schuldenstand aber auch darüber gesprochen werden, dass der deutsche Außenhandelsüberschuss zu Ungleichgewichten im Euro-Raum führt. Und dass die daraus resultierenden Defizite nicht nur den PIIGS-Staaten - welch unsägliches Wort - zu Lasten gelegt werden können. Die Griechen würden außerdem darauf verweisen, dass auch Deutschland mit dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 von der internationalen Staatengemeinschaft generös ein Neuanfang ermöglicht wurde.
Europäische Ideen auf dem PrüfstandJoachim Gauck könnte also eine neue Dialogmoral einläuten, die es der deutschen Bundesregierung ermöglichen würde, den einmal eingeschlagenen Weg im deutsch-griechischen Verhältnis zu korrigieren, ohne das Gesicht zu verlieren. Sonst wird er sich von der Nachwelt - der deutschen wie der griechischen - den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass es einfacher ist, für ein mehr als 70 Jahre zurückliegendes Vergehen um Verzeihung zu bitten als die offenen Wunden anzuerkennen, die eine kurzsichtige, auf Stimmenfang, Quote und Machterhalt ausgerichtete Politik vielfach auch mit Unterstützung der Medien angerichtet hat. Nicht nur in Griechenland, sondern auch in Spanien und Portugal und demnächst möglicherweise in Italien und weiteren Ländern der Europäischen Union. So gesehen stand vorgestern in diesem kleinen Dorf Lingiades, in der abgelegensten griechischen Provinz, auch die europäische Idee auf dem Prüfstand. Daran wird sich Joachim Gauck einmal messen müssen.