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Krisenkunst

Augustus Veinoglous Kopf erscheint in einem kleinen Bullauge. „Komm rein", sagt er und öffnet die Tür. Früher einmal war das hier eine Apotheke, daher die ungewöhnliche Gegensprechanlage, die heute gar nicht mehr nötig wäre. Denn der Raum hat zur Straße hin eine meterbreite Glasfront. „Willkommen bei Snehta", sagt er noch. Dann muss eben geklärt werden, welches Interview dieses ist, denn in den letzten Tagen haben sich mehrere Journalisten angemeldet, Veinoglou hat kurzzeitig den Überblick verloren. „Ein klarer Kopf wäre gut", sagt er. Kurz vor dem documenta-Start ist zu viel los: Athen ist busy. Die Ausstellungseröffnungen folgen immer enger getaktet aufeinander, auch hier in der Snehta öffnet in wenigen Tagen eine Schau. Veinoglou führt durch die Räume: den weitläufigen „white cube" im Erdgeschoss, die Holzwerkstatt im Keller und die Künstlerateliers im ersten Stock.


Athen ist unfertig, voller Brachen - und voller kreativer Freiräume


Snehta ist Athens erste Künstlerresidenz, eine Art Stipendienprogramm für Künstler, die hier für einige Monate leben und arbeiten dürfen. Augustus Veinoglou, selbst bildender Künstler, hat die Residenz vor fünf Jahren ins Leben gerufen. Damals lebte er noch in Edinburgh. Irgendwann wurde es zu kompliziert, Snehta aus der Ferne zu betreuen, außerdem war ihm Edinburgh zu langweilig geworden. Also ging er nach Athen zurück. „In Großbritannien war alles so vorhersehbar", sagt er, „die Städte sind bis zum Letzten durchgeplant und ohne Überraschungen." Athen ist das Gegenprogramm. Unfertig und voller Brachen. Das Residenz-Programm soll diese Erfahrung auch anderen Künstlern zugänglich machen. „Snehta", das englische Anagramm von „Athen", ist dabei die Aufforderung, einen anderen Blick auf die Stadt zu werfen. Sie gegen den Strich zu lesen.


Im Augenblick bräuchte es das gar nicht, Athen ist auch auf den ersten Blick interessant, die Stadt voller kreativer Freiräume. Es gibt Galerien in Garagen, in Bauruinen, es gibt Pop-up-Events und Projekträume. Innerhalb nur weniger Jahre sind rund drei Dutzend Galerien entstanden, die von Künstlern betrieben werden. Hier wird nicht verkauft, es geht nicht um Profit, sondern um Austausch: der Künstler untereinander, aber auch zwischen den Künstlern und Betrachtern.


„Die Athener Kunstszene hat in den vergangenen Jahren sehr an Fahrt gewonnen", sagt die Künstlerin Irini Bachlitzanaki. Vorbei die Zeiten, da griechische Künstler ins Ausland gehen mussten, um sich zu etablieren. Irini Bachlitzanaki ist 2011 zurückgekehrt. Zunächst einmal, weil in London, wo sie studiert hatte, für sie eine Lebensphase abgeschlossen war. Außerdem, weil Athen damals gerade in Bewegung geriet: „Ich wollte ausprobieren, ob ich hier in Griechenland eine Karriere aufbauen könnte", sagt sie.


Auch etablierte Künstler brauchen einen Brotjob


Ein gewagter Schritt, denn die Krise war bereits ausgebrochen. Andererseits wusste 2011 noch niemand, wie lange sie dauern und wie tiefgreifend sie sein würde. „Damals dachten wir noch, das ist eine Phase, die irgendwann überwunden sein wird", sagt Bachlitzanaki. Und dann war es zu spät. In Griechenland ist auch für arrivierte Künstler die Kunst nur Zubrot. Ohne einen Job geht nichts. Und Irini Bachlitzanaki hatte zu viel Kraft in die Wiedereingliederung gesteckt, um ihre Zelte einfach so wieder abzubrechen. Also blieb sie, und sie bereut es nicht: „Teil einer Szene zu sein, die gerade im Werden ist, erfüllt mich mit einer ungeheuren Energie."


Irini Bachlitzanaki sitzt zwischen ihren jüngsten Arbeiten. Hinter ihr: ein an der Wand montiertes Geländer, daran hängen bunte Kegel. Es könnten Glocken sein, wäre das Material nicht viel zu spröde, um einem Glockenschlag standzuhalten. „Meine Arbeit", sagt die Künstlerin und nimmt einen der farbigen Kegel in die Hand, „ist in den Jahren hier leichtfüßiger geworden, humorvoller, bunter". Ein Effekt der Krise: „Ich habe das Bedürfnis, dieser Düsternis und Resignation etwas entgegenzusetzen."


In der Krise wird die Kunst zur Nahrung für die Seele


Griechenland steckt zwar in der Krise, aber die kulturelle Kreativität blüht. Dennoch oder trotzdem. Theater haben ihre Eintrittspreise reduziert und sind erstaunlich gut besucht, Lyrik-Lesungen sind bis zum letzten Platz besetzt, Kunst als Nahrung für die Seele. Und das alles, obwohl der staatliche Kulturetat drastisch zusammengestrichen worden ist. Ausgrabungsstätten mussten aufgegeben werden, Museen haben ihre Öffnungszeiten reduziert, im Archäologischen Nationalmuseum sind ganze Säle geschlossen, weil es an Wachpersonal fehlt. Und wie in vielen anderen Behörden fehlt es auch im Kulturministerium mal am Papier, mal an der Druckertinte. Banalitäten wie etwa Büroklammern oder Toilettenpapier bringen die Angestellten der Einfachheit halber schon längst selber mit, bezahlt von ihrem um rund 40 Prozent gekürzten Gehalt.


Die Lücke, die der Staat hinterlässt, füllen zunehmend private Institutionen; meist sind es von Reedern ins Leben gerufene Stiftungen. An der viel befahrenen Athener Syggrou-Straße hat die Onassis Foundation ein 2010 fertiggestelltes Kulturzentrum gebaut, seit 2016 steht hier auch ein Operngebäude der Stavros Niarchos Foundation. Neue Landmarken in Athen, letztere entworfen vom italienischen Stararchitekten Renzo Piano. Ohne festes Gebäude kommt die Kulturorganisation Neon aus, deren Ausstellungen, die an verschiedenen Orten der Stadt stattfinden, eine wichtige Bereicherung des Athener Kulturlebens darstellen. Wichtige Institutionen, die, so unterschiedlich sie sind, eines gemeinsam haben: Sie bieten eine Bühne für Künstler, die sich bereits einen Namen gemacht haben.


„Der Non-Profit-Charakter ist wichtig, damit Künstler die Möglichkeit haben zu experimentieren"


„Was hier wirklich fehlt, sind Institutionen mittlerer Größe als Anlaufpunkt für junge Kreative", sagt deshalb Maya Tounta. Ob diese Institutionen nun privat sind oder vom Staat getragen, spielt eine untergeordnete Rolle, findet die Kunstkritikerin und Kuratorin - solange sie nicht gewinnorientiert sind. „Der Non-Profit-Charakter ist wichtig, damit Künstler die Möglichkeit haben zu experimentieren." Haben? Hätten. Denn in Griechenland, bedauert Maya Tounta, gibt es für Künstler, die sich dem Markt nicht beugen wollen, kaum Hilfe.


Sie selbst ist ganz frisch wieder in Griechenland. „Als Freelancerin bin ich ortsunabhängig, und ich wollte etwas Zeit mit meiner Familie verbringen." Gut zehn Jahre lang war sie im Ausland, zuletzt hat sie in Vilnius gearbeitet. Womit sie derzeit beschäftigt ist? „Oh, mit so viel!" Maya Tounta legt den Kopf zurück, lacht ihr leises, kehliges Lachen. Ein Projekt für das Contemporary Art Centre in Vilnius, ein Artikel, eine Assistenz im Rahmen der documenta. Gleichzeitig erforscht sie die Stadt und ihre Kunstszene. „Die Athener Kunstproduktion hat ihren ganz eigenen Charakter. Die Künstler setzen sich sehr mit den Materialien auseinander, und sie bringen viel Selbstironie und Humor mit." Maya Tounta spricht leise, aber bestimmt, dann hält sie inne und lacht wieder: „Rede ich zu viel?" Ihre Gedanken sind kaum zu bändigen. Die Gedanken zu Griechenland, zur Krise, zur Bedeutung von Heimat in Zeiten der Globalisierung.


Vieles hat sich verschoben in den Jahren der Abwesenheit, ihr Blick ist differenzierter geworden. „Die Bürokratie oder die Korruption zu kritisieren ist leicht", sagt Maya Tounta. „Interessanter aber ist es, die Zusammenhänge dahinter zu verstehen. Und die Spannungsfelder, in denen eben solche Phänomene entstehen." Kulturelle Unterschiede mit größerer Bescheidenheit anzugehen und das Wissen darum, dass sich Kulturen nicht eins zu eins übersetzen lassen, sind das Rüstzeug, mit dem sie nach Griechenland zurückgekommen sei. „Ich denke, das versucht auch die documenta zu zeigen: dass Orte, die wir als Peripherie empfinden, sei das Kabul oder Athen, gleichwertig sind."

Wenige Tage später: Ausstellungseröffnung in der Snehta. Ein internationales Völkchen, hustle, bustle, billiger Wein. Auch Irini Bachlitzanaki ist da. Die documenta mag ein Grund sein, weshalb Athen für viele Künstler gerade so attraktiv ist. Die Krise mit ihren Brüchen, Gräben und Spannungen ein anderer. Und die Frage an Augustus Veinoglou: Wird er auch bleiben, wenn die Krise vorbei ist? „Das Ende der Krise", wiederholt er und lacht. Als wäre es ein Witz.


Titelbild: Dimitris Michalakis Zum Original