Nach einem Verbrechen legt sich Schweigen über das Villenviertel von Kaltsee. Das Opfer wird mit Geld mundtot gemacht, die Täter beteuern ihre Reue und bald scheint der Skandal vergessen. Doch die Tat macht eine Rückkehr zur Normalität in der Vorstadtidylle unmöglich.
Nathan und Gusten sind beste Freunde. Als Kinder wohlhabender Familien wachsen die beiden Teenager in Kaltsee auf, einem fiktiven Nobel-Vorort irgendwo im Norden Europas. Während einer Party in der Villa von Nathans Eltern begehen sie im Keller des Prachtbaus ein schreckliches Verbrechen. Gemeinsam mit zwei anderen Jungen vergewaltigen sie Nathans betrunkene Ex-Freundin Sascha, die sich erst kurz zuvor von ihm getrennt hatte. Die Vergewaltigung soll seine Rache dafür sein.
Als einziger der Clique wird Gusten kurz danach von Gewissensbissen geplagt. Er plant, sich der Polizei zu stellen, wodurch die Beziehung zu Nathan erste Risse bekommt. Der nämlich setzt alles daran, die Tat zu vertuschen, doch sein Kindheitsfreund hält dem Druck und seinem schlechten Gewissen nicht länger stand. Gusten zeigt sich selbst an und sagt aus. Prompt gerät der Fall an die Öffentlichkeit und löst eine Welle der Empörung in der eigentlich so beschaulichen Gemeinde Kaltsee aus.
Doch so schnell die Entrüstung im Villenviertel aufbrandet, so schnell ebbt sie auch wieder ab. Zu groß ist der Wunsch nach Ruhe und Normalität der Bewohnerinnen und Bewohner, zu einflussreich sind die Eltern der noch minderjährigen Täter. Nathans Mutter bangt um ihre politische Karriere und setzt alles daran, die "Boys" (wie die Zeitungen titeln) vor ernsteren Strafen zu bewahren, mit Erfolg. Der Einzige, der verurteilt wird, ist Nathan - zu sechs Monaten auf Bewährung. Die anderen drei Jungen werden freigesprochen. Neben teuren Anwälten geht das erschütternde Urteil nicht zuletzt auf die erhebliche Geldsumme zurück, mit der Sascha zum Schweigen gebracht und somit die Aussagen des Opfers im Keim erstickt werden.
Diesem Schweigen setzt Monika Fagerholm in ihrem Roman "Wer hat Bambi getötet?" eine laute Sprache entgegen, findet dort Worte, wo das Sprechen eigentlich unmöglich gemacht werden soll. In rastlosem Tempo erzählt sie, wie nach dem Öffentlichwerden der Vergewaltigung in Kaltsee alles aus den Fugen gerät, wie die Leben aller Beteiligten und ihrer Familien mit einem Ruck zerbrechen. Die Erschütterungen sind beim Lesen beinahe spürbar. Denn Fagerholm lässt nichts schleichend geschehen, sondern reiht Schlag auf Schlag in einem fast stakkatoartigen Erzählfluss aneinander: "Alles, was kaputtgehen kann, geht kaputt, explodiert, zerspringt, in tausend Stücke". Dieser Rhythmus lädt geradezu zum laut Lesen ein, wodurch der Text einen rauen Sound entwickelt, der an Punk erinnert.
Und tatsächlich ist Punk für den Roman nicht ganz unwichtig, ist doch der Titel an den Sex-Pistols-Song "Who killed Bambi?" angelehnt, wie Monika Fagerholmim September beim Internationalen Literaturfestival in Berlin verrät. "Murder, murder, murder" heißt es in dem Lied und ähnlich deutlich geht die Schriftstellerin vor, wenn sie die Pistols indirekt zitiert: "Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung", verübt von "Vergewaltigerjungs". Es gehe ihr mit dieser Drastik darum, "Systeme des Schweigens" zu bekämpfen, die Betroffene sexualisierter Gewalt unsichtbar machen und die Täter schützen, verrät die 61-Jährige. Das gehe nur, indem man die Geschichten der Opfer erzählt und die Funktionsweisen dieser stillen Gewaltsysteme aufdeckt und benennt. Das tut Fagerholm zum Beispiel dann, wenn sie die reichen und einflussreichen Eltern Nathans, samt gut bezahlter Juristen, gegen Sascha ankämpfen lässt, die als Waise in Kaltsees Mädchenheim aufwächst. Die Wahrung der eigenen Interessen und die Wiederherstellung des guten Images sind da wichtiger als die gerechte Bestrafung der Täter.
Nur geht diese Rechnung nicht ganz auf. Denn zwar können die Angehörigen der "Boys" die Freisprüche nach der Gerichtsverhandlung mit einem breiten Grinsen quittieren. Doch die erhoffte Rückkehr zur Tagesordnung bleibt aus. Nathan flüchtet sich in die Einsamkeit und bricht den Kontakt zu Gusten ab. Der begibt sich zur Therapie in eine psychiatrische Klinik und wird auch nach seiner Entlassung nicht mit seiner Schuld leben können. Die Freundschaft der Jugendlichen zerbricht, die politische Karriere von Nathans Mutter endet durch den Skandal um ihren Sohn abrupt. "Am Ende sind alle unglücklich", fasst Monika Fagerholm zusammen.
Und Sascha? Die wird nach dem Fällen der Urteile komplett sich selbst überlassen. Denn im Gegensatz zu den Tätern hat sie kein sicheres soziales Netz, in das sie fallen kann. Was im Anschluss an die Freisprüche mit dem Opfer gemacht wird, bezeichnet die Finnlandschwedin in ihrem Buch als die "archaische Wiederholung der nackten patriarchalen Macht". Da sind die gleichaltrigen Freunde der Täter, die versuchen, das Narrativ umzudrehen und Sascha als "Verführerin" darzustellen. Da ist der selbsternannte Entrepreneur Cosmo, der die Vergewaltigung als Vorlage für ein Drehbuch verwendet und aus dem Stoff Kapital schlägt. Und da ist der Promipsychologe, der den Jungen vom Gericht zugeteilt wird, und der sie zur "gemeinsamen Arbeit" auf einen Ski-Trip in die Schweizer Alpen mitnimmt. Während alles getan wird, um die Jungen wieder aufzubauen und die Tat vergessen zu machen, bleibt das Opfer außen vor. Niemand scheint sich mehr für Sascha zu interessieren, oder um es in Cosmos Worten auszudrücken: "Fuck Bambi!"
Dass Sascha unsichtbar gemacht wird, habe durchaus System, ergänzte Antje Rávik Strubel, die "Wer hat Bambi getötet?" ins Deutsche übersetzt hat. Denn nur, wenn wir die Opfer nicht sehen, "können wir glücklich weiterleben", erzählt sie im Gespräch mit Fagerholm beim Internationalen Literaturfestival in Berlin. Und so macht sich in Kaltsee eine ganze Gemeinde mitschuldig, indem sie systematisch schweigt und wegschaut - und sich lieber der Wunschvorstellung ihrer heilen Welt zuwendet.
Die jedoch ist "längst in Stücke gegangen", wie Monika Fagerholm resümiert. Wobei sich hier "in Stücke geschlagen" eher anbieten würde. Denn der Zerfall von Familien, Freundschaften und ganzen Leben in Kaltsee geschieht nicht einfach so, ist kein passiver Vorgang. Alle wissen, dass Nathan, Gusten und die anderen Jungen dafür verantwortlich sind. Sie wissen, dass die Zeitungen mit ihrem euphemistischen "Boys" bloß das Wort "Täter" umschiffen wollen. Und dem Leser wird immer klarer, dass das Unterbinden von Strafen und das bewusste Ausblenden der Tat ein System am Leben hält, in dem Vergewaltiger immer weitermachen können und ihre Opfer fallen gelassen werden.
Diesen Kreislauf zu durchbrechen, hat sich Monika Fagerholm mit ihrem jüngsten Roman zum Ziel gesetzt, für den sie 2020 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet wurde. Und sie wird ihrem Anspruch gerecht. "Wer hat Bambi getötet?" schaut dahin, wo viele lieber wegsehen, wird da besonders laut, wo sonst Stille herrscht. Und das, ohne die Qualen des Opfers voyeuristisch auszuschlachten. Die Skandinavierin beweist, dass es diese Form der Drastik nicht braucht, um aufmerksam zu machen, ein Ausrufezeichen zu setzen. Auch in den ruhigeren Momenten verliert ihre Sprache nicht an Kraft und so halten der wilde Rhythmus und die Sogkraft von "Wer hat Bambi getötet?" bis zur letzten Seite an.
Quelle: ntv.de