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Hungerstreiks, Che Guevara und 17 Regeln

Während Kolumbien einen neuen Präsident wählt, stockt die Aussöhnung mit den Rebellenbewegungen FARC und ELN. Im Gefängnis Bellavista in der Stadt Medellín erzählen Guerilleros, warum das Friedensprojekt ihrer Meinung nach gefährdet ist.

Von Alicia Prager, Medellín/Kolumbien

Ein brauner Vorhang verdeckt die Gitterstäbe der Zelle im Bellavista-Gefängnis von Medellín. Julian sitzt auf seinem Bett und erzählt von dem Tag, als er verhaftet wurde. Gemeinsam mit zwei Mitkämpfern hatte er ein Bombenattentat auf eine Militärstation verübt, bei dem drei Menschen verletzt wurden – und war dann an die Polizei verraten worden. Das war vor sechs Jahren. Seitdem sitzt Julian in Haft und wird von Gefängnis zu Gefängnis verlegt. Hier in Bellavista ist er seit acht Monaten.

Während Julian erzählt, rührt ein anderer Insasse Kakao auf einer behelfsmäßigen Kochplatte an: elektrischer Draht, der um einen Ziegelstein gewickelt ist und auf einer schmalen Ablage an der Wand gegenüber des Bettes steht. Die Toilette daneben ist durch einen rosa Duschvorhang vom Rest des Raums getrennt. Ein weiterer junger Mann bringt ein paar Buñuelos herein, frittierte Käse-Teigbällchen. Wie Julian haben sie für die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) oder die Nationale Befreiungsarmee (ELN) gekämpft.

Julian, heute 30 Jahre alt, ist eines der elf FARC-Mitglieder, die in Bellavista im Hof Nummer 16 sitzen. Landesweit befinden sich laut Angaben der FARC noch 625 ehemalige Kämpfer hinter Gittern. Vor eineinhalb Jahren hat der Staat mit der Guerilla-Organisation einen Friedensvertrag unterzeichnet, mit dem ein mehr als 50 Jahre langer Krieg beendet werden sollte. Doch die politischen Gefangenen warten immer noch auf ihre Freilassung. Ihr Vertrauen in den Staat ist auf dem Tiefstand, ihre Hoffnung liegt bei internationalen Beobachtern. Aus ihrer Sicht hat die Regierung bislang zu wenige Punkte des Vertrags umgesetzt. Auch Präsident Juan Manuel Santos gesteht Versäumnisse ein. Es habe einige Koordinationsprobleme und Verzögerungen gegeben, sagt er in einer Rede Ende April. „Es ist ein langer und komplexer Prozess, der Zeit braucht.“ Seine Regierung würde nun jedoch an einer schnelleren Umsetzung arbeiten. Währenddessen intensivieren sich die Spannungen in einigen Teilen des Landes wieder: der Konflikt hat sich verändert, vorbei ist er nicht. Im Vakuum, das die Demobilisierung der FARC hinterlassen hat, kämpfen andere bewaffnete Gruppen um Macht und Einfluss. Yeison, 30, der neben Julian am Bett sitzt, erzählt, zwei FARC-Fraktionen in Ituango – etwa fünf Stunden entfernt von Medellín – hätten soeben erklärt, dass sie weiterkämpfen werden. „Ich respektiere ihre Entscheidung, aber ich habe meine ganze Jugend lang gekämpft. Ich gehe nicht mehr zurück,“ sagt Yeison. Eine lange Narbe vom Hieb einer Machete zieht sich über seinen Unterarm.

Die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen sind auch hinter Gittern deutlich zu spüren. Hier leben rechte Paramilitärs und linken Guerilleros auf engem Raum zusammen. In Pedregal, einem anderen, besonders gefürchteten Gefängnis von Medellín, das den Spitznamen Guantánamo trägt, kommt es oft zu Gewalt zwischen ihnen. In Bellavista gebe es zwar eine Art Nicht-Angriffspakt, doch herrschen auch hier Feindseligkeiten, sagt Verónica López von der NGO „Komitee der Solidarität mit politischen Gefangenen“ (FCSPP).

Immer wieder kommen Insassen vorbei, stecken Julian Geld zu, flüstern ihm etwas ins Ohr. Einmal holt er ein Paar weiße Adidas-Sneaker unter seinem Bett hervor und reicht sie einem anderen Mann. Gemeinsam mit einem Vertreter der ELN hat Julian – oder „J“, wie ihn hier alle nennen – das Sagen in diesem Teil des Gefängnisses.

Seit die FARC 2016 den Friedensvertrag mit der Regierung geschlossen hat, ist die ELN die größte noch aktive Rebellenorganisation in Kolumbien. Genaue Zahlen, wie viele Mitglieder sie momentan hat, gibt es nicht. Schätzungen liegen bei 2000 bis 2500 Kämpfern und 7000 bis 10.000 weiteren zivilen Mitgliedern. Auch sie verhandeln momentan mit der Regierung.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, die am Sonntag stattfanden, hat die ELN einen Waffenstillstand ausgerufen, um sich kompromissbereit zu zeigen. Denn trotz der vielen Komplikationen sollen die Gespräche weitergehen, sagt ein hochrangiger Repräsentant der Rebellenfraktion, der nicht namentlich genannt werden möchte. Er sitzt in einem separaten Gefängnistrakt von Bellavista ein. Die Räume hier erinnern an eine Wohngemeinschaft, Gitterstäbe sind keine zu sehen. Es gibt eine Küche, ein Büro, an den Wänden hängen Bilder von linken Idolen, wie Che Guevara. In diesem Trakt sind Mitglieder der Führungsriege der ELN eingesperrt – sechs Personen sind es momentan. Sie haben einen vom Staat genehmigten Internet-Zugang, studieren online – etwa Psychologie oder Philosophie – und beteiligen sich von der Zelle aus an den Friedensverhandlungen. Dabei verfolgen sie genau, wie die Implementierung des Vertrags mit den FARC läuft – und sind enttäuscht. Der Staat hätte bislang nur rund 15 Prozent seiner Versprechungen im Vertrag umgesetzt und die Sicherheit der ehemaligen Kämpfer sei nicht garantiert. Seit November 2016 wurden bereits über 50 FARC-Mitglieder von bewaffneten Gruppen ermordet, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Solange wir um unser Leben fürchten müssen, kämpfen wir weiter,“ sagt eines der ELN-Mitglieder.

„Wir wollen Frieden. Aber nur mit einer tiefgreifenden Veränderung des Landes,“ ergänzt ein anderer. Die ELN stellt mehr Bedingungen als die FARC und fühlt sich durch die schleppende Umsetzung des Friedensvertrags berechtigt, weiter auf radikale Methoden zu setzen. Dennoch wollen die politischen Gefangenen beider Guerillagruppen in Bellavista an der Gestaltung des Friedensprozesses teilnehmen, so gut sie von hier aus können. Im Trakt der regulären politischen Gefangenen, in dem Julian und Yeison sitzen, stehen währenddessen dutzende junge Männer an den Hauswänden des Innenhofes und schauen neugierig, wenn Besucher eintreten. An der gegenüberliegenden Seite führt ein Stiegenhaus in den ersten Stock, wo sich die Zellen befinden. Einige Männer stehen davor und halten Wache, um den anderen Bescheid zu geben, sobald Gefängniswärter den Gang betreten. An die Gitterstäbe der Zellen sind Matratzen gebunden – in der Nacht werden sie nebeneinander geschlichtet, damit jeder Platz zum Schlafen hat. Das sei in anderen Teilen des Gefängnisses nicht möglich, sagt Veronica López vom Gefangenen-Solidaritätskomitee FCSPP. Manche Korridore seien so überfüllt, dass in Schichten geschlafen werden müsse: das für 1800 Menschen ausgelegte Gefängnis beherbergt momentan rund 3100 Insassen. Im vergangenen Jahr waren sogar rund 7000 Leute hier, sagt Raul Gonzalo Garcia Jaramillo, der Leiter des Gefängnisses. Er sieht eine der größten Herausforderungen für die Verwaltung der kolumbianischen Gefängnisse im Fehlen einer klaren Strafrechtspolitik. Haftstrafen würden viel zu häufig verhängt.

In den überfülltesten Teilen des Gefängnisses müssen die Insassen an kriminelle Banden, die hier das Gewaltmonopol haben, zahlen, um einen Schlafplatz zu bekommen, sagt López. „Zusätzlich konsumieren viele Insassen Drogen, das macht das Zusammenleben noch schwerer,“ fügt sie hinzu. Ein Aushang neben dem Eingang zum Korridor von Julians‘ Zelle listet 17 Regeln auf. Verboten sind: Drogenkonsum, Diebstahl, Fernsehen oder Radiohören während der Nachtruhe ab 22 Uhr, und Respektlosigkeit im Umgang miteinander. Die politischen Gefangenen sind militärische Strukturen gewohnt und haben sich hier im Gefängnis auf Disziplin geeinigt. „Wir haben uns ähnlich organisiert wie früher in den Bergen“, sagt Jesus Emilio von der ELN: „Wenn wir unsere Hoffnung vergessen, sind wir verloren.“