Pavlos Pavlidis bezeugt als Gerichtsmediziner fast täglich die tödlichen Konsequenzen der europäischen Grenzpolitik. Doch statt abzustumpfen, erweist er den Opfern einen letzten, traurigen Dienst.
Alexandroupoli - Der Job von Doktor Pavlos Pavlidis könnte im Grunde beinahe entspannt sein. Er leitet die Gerichtsmedizin im Krankenhaus von Alexandroupoli, einer Küstenstadt im Norden Griechenlands. Gut 70.000 Menschen leben hier, ansonsten zählen zu seinem Einsatzgebiet Kleinstädte und verschlafene Dörfer, in denen vor allem die Alten übriggeblieben sind.
Nicht die typische Klientel für Mord und Totschlag. Doch Pavlos Pavlidis' zerfurchtes Gesicht erzählt eine andere Geschichte: Eine von langen Arbeitstagen und wenig Schlaf. Und das hat mit dem Evros zu tun. Der Fluss mündet etwa eine Autostunde von Pavlidis' Arbeitsplatz entfernt in die Ägäis. Und er trennt Griechenland von der Türkei.
Flucht nach Griechenland: Viele sterben an der EU-AußengrenzeSeit vielen Jahren haben Menschen auf der Flucht versucht, über den Evros nach Griechenland zu kommen. Und schon immer sind einige von ihnen bei dem Versuch gestorben. Doch in den vergangenen zwei Jahren hat sich der Weg über den Evros zu einer der wichtigsten Fluchtrouten in die EU entwickelt, zahlenmäßig häufiger genutzt als jene über die griechischen Inseln.
Laut der griechischen Regierung versuchen aktuell jeden Tag etwa 1000 Menschen, die Grenze zu überqueren. Und die Grenzregion um den Fluss ist damit zu einer echten Todeszone geworden. Eine Todeszone, die in Pavlidis Aufgabenbereich fällt. Wer dort stirbt, landet über kurz oder lang auf seinem Seziertisch.
Tote vom Evros: Für Pavlidis hat der Schrecken eine gewisse NormalitätIn seinem kleinen Büro, in dem sich der Zigarettenrauch von vielen Jahren festgesetzt hat, zeigt Pavlidis am Computer Fotos von Leichen, die er in diesem Jahr untersucht hat. Klick. Ein skelettierter Körper, der kaum noch etwas Menschliches an sich hat. Ertrunken im Evros und erst nach Wochen im Wasser gefunden. Klick. Ein junger Mann, der aussieht als würde er schlafen. Erfroren in den Bergen nahe der Grenze, wo er wohl hoffte, unentdeckt zu bleiben.
Pavlidis teilt dieses Grauen keineswegs teilnahmslos, aber doch mit einer Sachlichkeit, die verrät, wie normal es für ihn geworden ist, die Grenztoten Europas zu obduzieren. Doch auch ihn treibt etwas um: Die Toten werden mehr. 51 waren es in diesem Jahr allein bis Mitte September - „und das ist nur die griechische Seite". In den Jahren zwischen 2000 und 2020 waren es im Durchschnitt weniger als halb so viele.
Griechisch-türkische Grenze: Eine kleine Halskette kann Angehörigen Gewissheit gebenWoran liegt das? Ein Teil der Antwort lautet wohl: An den neuen Methoden der griechischen Grenzschutzbehörden. NGOs, Journalist:innen und Forensik-Expert:innen haben in den vergangenen zwei Jahren tausende Fälle illegaler Pushbacks dokumentiert. Menschen, die längst griechischen Boden erreicht haben, werden zurück in die Türkei gezwungen, ohne die Möglichkeit zu bekommen, Asyl zu beantragen - ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Oft werden ihnen vorher Geld, Handys und manchmal sogar ihre Kleidung abgenommen. Und: Viele Betroffene berichten, dass sie mit Waffen bedroht oder sogar beschossen werden, sowohl von griechischer als auch von türkischer Seite.
Erschossen an der EU-Außengrenze: Wer abgedrückt hat, wird nicht hinterfragtPavlidis kritisiert die griechischen Behörden mit keinem Wort. Er zeigt, klickt. Auf seinem Bildschirm die Leiche einer jungen Frau, vermutlich aus Somalia, mit offenen Augen auf einem Feldweg liegend. Ein grausames Foto. Die Frau wurde erschossen. Erschossen? Wohl von türkischen Polizisten, sagt Pavlidis.
Das ist jedenfalls die offizielle Version der griechischen Behörden. Der Gerichtsmediziner hinterfragt das nicht. Er ist für die Menschen erst nach ihrem Tod zuständig. Und außerdem hätte er seinen Job wohl nicht mehr lange, wenn er etwas anderes sagen würde. Die griechische Regierung geht seit einiger Zeit hart gegen Menschen vor, die öffentlich über Grundrechtsverletzungen an den griechischen Grenzen sprechen.
Tot an der EU-Grenze: Pavlidis Büro ist zu einer Anlaufstelle für die Hinterbliebenen gewordenDoch Pavlidis ist keineswegs gleichgültig gegenüber den Geschichten hinter den leblosen Körpern. Seine eigentliche Aufgabe ist es, die Todesursache und - wenn möglich - die Identität der Menschen festzustellen. Doch Pavlos Pavlidis tut noch viel mehr als das. Er hat sein Labor zu einer Anlaufstelle für die Angehörigen der Toten aus aller Welt gemacht.
Er bekommt Nachrichten von Familien in Afghanistan, Syrien, sogar Nepal, aber auch aus Deutschland und Großbritannien. Sie schicken Fotos ihrer Liebsten, von denen sie nichts mehr gehört haben, seit sie aufgebrochen sind, um die Grenze nach Griechenland zu überqueren. „Wie geht es Ihnen, Doktor?" hat ihn etwa ein Mann namens Ahmad vor einigen Tagen per Whatsapp gefragt. „Wir vermissen eine Person in Griechenland und wir wissen nichts über ihn." Angehängt ist das Foto eines jungen Mannes mit Jeansjacke und Bartflaum am Kinn.
Grenze Türkei-Griechenland: Pavlidis arbeitet teils ohne Bezahlung - Unterstützung von Staat oder EU gibt es nichtPavlidis kommuniziert mit den Angehörigen von seinem privaten Handy aus. Seine Nummer wird wohl per Mundpropaganda und in Internetforen weitergegeben. Niemand hat den Gerichtsmediziner von Alexandroupoli mit dieser Vermittlungsarbeit beauftragt, niemand bezahlt ihn für die Überstunden. „Ich bin hier alleine", sagt Pavlidis.
„Ich bekomme keine Hilfe vom Staat, vom Krankenhaus oder von der Universität." Vor dem Eingang zu seinem Labor stehen zwei zerbeulte Kühlcontainer, die das Internationale Rote Kreuz ihm gespendet hat. Darin liegen 20 Leichen, deren Identität er noch nicht endgültig feststellen konnte. Wieder eine Bemerkung, die Pavlos Pavlidis nebenbei fallen lässt und dabei gar nicht merkt, wie unfassbar sie für Außenstehende klingt.
Tod an der EU-Außengrenze: Identifikation gestaltet sich häufig schwierigEs ist für den Gerichtsmediziner oft nicht einfach, die Fragen der Angehörigen zu beantworten. Nur selten werden Dokumente bei den Leichen gefunden. Wie soll er also wissen, ob ein vom Wasser bis zur Unkenntlichkeit entstellter Toter der junge Mann auf dem Foto ist, das Ahmad ihm per Whatsapp geschickt hat? Manchmal gelingt es den Familien, ihm über die Botschaften ihrer Heimatländer DNA-Proben zukommen lassen, mit denen er die DNA der Toten abgleicht. Aber häufig sind solche Fälle nicht.
Große Bedeutung haben deswegen die wenigen Gegenstände, die er bei den Toten findet - wenn er Glück hat. Pavlidis geht kurz aus dem Zimmer, nur um zwei Minuten später mit einer großen gelben Box zurückzukommen, die er auf seinen Schreibtisch hievt. Sie ist bis zum Rand gefüllt mit großen braunen Papierumschlägen. Jeder einzelne gehört zu einem oder einer Toten. Aus einem der Umschläge zieht er eine kleine Plastiktüte, darin: Die wenigen Habseligkeiten des jungen Mannes, den er zuletzt untersucht hat: ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten - wenig hilfreich - und ein silbernes Kettchen. Das wiederum ist für Pavlidis von unschätzbarem Wert. Ein Foto von solch einer Kette, einem Ring oder einer Uhr hat schon vielen Familien traurige Gewissheit gebracht.
Gerichtsmediziner Pavlos Pavlidis: „Ich denke nicht an Politik oder daran, woher sie kommen"Ganz selten sind die Familien der Toten wohlhabend genug, um deren sterbliche Überreste ins Heimatland zu überführen und dort zu bestatten. Alle anderen werden eher notdürftig in der Grenzregion begraben. Ein Teil der Toten, diejenigen, die Pavlidis für Muslim:innen hält, liegen auf einem eigens für die Geflüchteten angelegten Friedhof in Sidiro, einem abgelegenen Dorf mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Hunderte namenlose Gräber haben sich dort inzwischen angesammelt. Die Christ:innen liegen am Rand des Friedhofs von Orestiada begraben - Griechenlands nördlichster Gemeinde.
Auch Pavlidis ist gläubiger Christ. Auf einem Regalbrett in seinem Büro hat er eine Sammlung von Miniaturkirchen aufgereiht. Winzige Gotteshäuser, weiß bemalt, mit bunten Kuppeldächern. Am Sockel seines Computermonitors, auf dem er täglich Bilder von Leichen durchklickt oder Berichte, über deren einsames Sterben abtippt, lehnt ein kleines Ikonenbild. Vielleicht will er an einem langen Arbeitstag seinen Blick ab und zu auf etwas Tröstendem ruhen lassen.
Der Hiobsbotschafter vom Evros: „Aber wenigstens wissen sie es dann"Oder er braucht diese Dinge, um sich daran zu erinnern, warum er tut, was er tut: Als ehrenamtlicher Hiobsbotschafter verzweifelte Hilferufe aus aller Welt beantworten - egal, ob sie ihn tagsüber an seinem Schreibtisch erreichen oder zu Hause beim Abendessen. Und das, obwohl der einzige Erfolg, auf den er hoffen kann, darin besteht, unermessliches Leid über eine Familie zu bringen. „Aber wenigstens wissen sie es dann", sagt Pavlidis schlicht. „Das ist immer noch besser als sich jahrelang zu fragen, was mit dem eigenen Kind oder Bruder passiert ist."
Das Wichtigste für ihn sei Respekt, sagt er. Respekt vor den Toten und vor den Angehörigen. „Ich denke nicht an Politik oder daran, aus welchem Land sie kommen oder welche Religion sie haben." Prinzipien, mit denen Pavlos Pavlidis ziemlich alleine ist, hier am vergessenen Rand Europas. (Alicia Lindhoff)