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Soziale Ungleichheit: „Mehr Menschen müssen aufbegehren "

Die neue „Working Class" strampelt sich ab und kommt doch nie auf die sichere Seite, sagt Autorin Julia Friedrichs. Die künftige Regierung sollte den Kampf gegen Ungleichheit ganz oben auf ihre Agenda setzen.


Deutschland sitzt einer Lebenslüge auf, seit Jahren. Davon ist Julia Friedrichs überzeugt. „Man sieht sich hier immer noch als ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft', die auf dem Leistungsprinzip basiert", sagt sie. Als eine Gesellschaft also, die keine Klassen mehr kennt, dafür aber eine breite Mittelschicht, und wo jeder und jede mit Bildung und etwas Fleiß den sozialen Aufstieg schaffen kann. Die Realität sehe anders aus, sagt Julia Friedrichs. „Dieses Land ist viel ungleicher, als die meisten glauben. Welche Lebenschancen man hat, hängt hier vor allem von der Geburt ab, nicht von der eigenen Anstrengung."


Friedrichs ist Reporterin, Buchautorin und Filmemacherin. Fragen rund um Armut und Reichtum treiben sie seit der Einführung von Hartz IV um, soziale Ungleichheit ist so etwas wie ihr Lebensthema. Sie hat in den Kaderschmieden der selbsternannten Elite recherchiert und sich in einem „Family Office" erklären lassen, wie Profis die Vermögen schwerreicher Dynastien verwalten. Sie hat erkundet, wer in Deutschland erbt, was es mit Menschen macht, sich jahrzehntelang im Niedriglohnsektor abzurackern und wieso viele nicht aus dem System Hartz IV herauskommen.


Julia Friedrichs über die Ungleichheit in Deutschland: Viele kommen aus dem System Hartz IV nicht heraus.

Ihr Fazit: Immer mehr Menschen in Deutschland strampeln sich ab und kommen dennoch nicht auf die sichere Seite. Es sind Menschen wie Sait, der in Berlin nachts für ein Subunternehmen U-Bahnhöfe reinigt, aber auch die freiberufliche Musikschullehrerin Alexandra oder der Konsumforscher Christian. Diese drei hat sie für ihr jüngstes Buch mehr als ein Jahr begleitet - stellvertretend für eine stetig wachsende Gruppe, die sie die „Working Class" nennt. Sie arbeiten nicht mehr zwangsläufig in der Fabrik, sondern im Callcenter, im Supermarkt oder in der Agentur. Doch so unterschiedlich ihre Hintergründe und Lebensstile sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie alle leben fast ausschließlich von ihrer Arbeit, wobei ihr Einkommen nur gerade so reicht, um die laufenden Ausgaben zu decken. Vermögen aufbauen, fürs Alter vorsorgen oder auf der sozialen Leiter aufsteigen - dieses Versprechen bewahrheitet sich für immer weniger von ihnen. Die Angst vor Jobverlust, Hartz-IV-Bezug und Altersarmut hat viele Menschen fest im Griff.


Der „Working Class" gegenüber steht die Gruppe all jener, die auf Arbeit nicht angewiesen sind und überwiegend von ihrem Vermögen leben. Sie ist seit der Jahrtausendwende um 70 Prozent gewachsen, aber trotzdem noch immer klein. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt heute mehr als ein Drittel der Vermögen in Deutschland. Allgemein könne man sagen: „Arbeit hat verloren, Kapital hat gewonnen".


Zwar seien Vermögen in Deutschland schon immer extrem ungleich verteilt gewesen, sagt Friedrich. Aber bis in die 80er Jahre habe sich das weniger stark auf die Lebenschancen der Einzelnen ausgewirkt. Weil aber die Gehälter vieler Menschen seit Jahren kaum steigen, Lebenshaltungskosten, Mieten und Immobilienpreise dagegen in die Höhe schießen und Sparzinsen gegen null gehen, wird es für all jene, die von ihrer Arbeit leben müssen, immer enger - während sich die Gewinne aus Kapitalvermögen prächtig entwickeln. Auch in der Corona-Krise. „Die Pandemie hat wieder gezeigt: Vermögen ist immer der Gamechanger."

„Soziale Ungleichheit war nicht Angela Merkels Thema" sagt Julia Friedrichs.

Die Politik habe dieser wachsenden Spaltung nichts entgegengesetzt. Zwar sei Angela Merkel keineswegs die Wirtschaftsliberale, die manche in ihr sehen, sagt Friedrichs. Wenn es zum Zeitgeist passte, habe sie sich auch „sanften Reformen" mit sozialdemokratischem Anstrich nicht versperrt. Aber: „Soziale Ungleichheit war einfach nicht ihr Thema." Und kleinere Reformen reichten nicht aus, um das Ruder herumzureißen. „Die Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren so dermaßen verschärft, da braucht es entschlossenes politisches Handeln."


Als erster Schritt müsste nach Friedrichs Ansicht der Mindestlohn erhöht werden. Außerdem brauche es viel mehr Investitionen in öffentliche Infrastruktur, insbesondere in die Bildung: „Schulen müssten die schönsten Orte des Landes sein." Bei ihren jahrelangen Recherchen hat sie viele kreative Ideen gesammelt, die darauf abzielen, auch der „Working Class" zu ermöglichen, Vermögen aufzubauen. Gut gefällt ihr etwa das Modell der sozialen Erbschaft: Alle jungen Menschen im Land bekämen dabei als Starthilfe eine Art staatliches „Erbe" über mehrere Zehntausend Euro. Sinnvoll sei auch ein Staatsfonds nach dem Vorbild Norwegens sowie Maßnahmen, die es Menschen ohne Vermögen ermöglichten, Immobilien zu kaufen. Finanziert werden sollten solche Maßnahmen durch höhere Steuern auf die größten Vermögen, Erbschaften und Kapitalgewinne. Kurz: durch Umverteilung.


Mindestlohn, bessere Schulen, Umverteilung - Julia Friedrichs schlägt vor was eine neue Regierung ändern könnte

Ob ein „entschlossenes Handeln" zu erwarten ist, falls die künftige Regierung von Grünen oder SPD angeführt wird? Julia Friedrichs würde nicht darauf wetten. „Das Hauptproblem ist, dass die Interessen derer, die von solchen Maßnahmen profitieren würden, am schlechtesten organisiert sind: junge Menschen, Familien und viele Gruppen, von denen die Parteien wissen, dass sie seltener zur Wahl gehen." Dabei sei das Nichtwählen oft Teil ein und desselben Teufelskreises aus Enttäuschung und Perspektivlosigkeit. So wie bei Sait, einem der Protagonisten ihres jüngsten Buches: „Er hat früher SPD gewählt. Heute wählt er gar nicht mehr. Und rechnet auch nicht damit, dass sich für Menschen wie ihn etwas ändert." Es ist ein Teufelskreis, der nicht nur für die Demokratie gefährlich sei, warnt Julia Friedrichs. Wer die Erfahrung mache, dass die eigene Anstrengung nichts bringt, eigene Ideen und Träume ohnehin keine Chance haben, werde auch keine Innovationen entwickeln. „Bei den Menschen, die ich für mein Buch interviewt habe, wundere ich mich, wie sie sich trotz des niedrigen Lohns jeden Morgen aufraffen." Traurig mache sie die Fixierung dieses „reichen, alten Lands" auf die Vergangenheit - denn nichts anderes sei die Bevorzugung von Vermögen. „Ich wünsche mir, dass wir stattdessen den Blick in die Zukunft wagen."


Doch der Ball liegt aus Friedrichs Sicht nicht nur bei der Politik. Zuerst einmal müsste sich die neue „Working Class" überhaupt als Gruppe mit gemeinsamen Interessen verstehen. Dass sie es nicht tut, hat auch wieder mit der deutschen Lebenslüge zu tun, glaubt sie. „Die meisten Menschen schätzen sich deutlich reicher ein, als sie es sind." So sträubten sich viele gegen höhere Erbschaftssteuern, weil sie auf ein kleines Erbe in der Zukunft hoffen - das von dieser Steuer überhaupt nicht erfasst würde. Auch deswegen ist es Friedrichs so wichtig, über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse aufzuklären. „Es geht darum, zu zeigen: Hey, du bist in der unteren Mitte. Solidarisier dich doch lieber mit denen ‚unter' dir, statt nach denen ganz oben zu schielen." Das gelte sowohl für den Lieferdienstfahrer wie für die Therapeutin auf Honorarbasis. Gerade jüngere Menschen sollten wieder lernen, Arbeitskämpfe zu führen. „Es müssen mehr Menschen aufbegehren. Anders wird es nicht gehen."

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