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Als ich aufwache, fühle ich mich bereits merkwürdig - zwischen aufgekratzt und lethargisch. Es ist 24.09.2017, Wahlsonntag.
Seit Monaten habe ich mich mit kaum etwas mehr beschäftigt, als mit dem, was heute passieren wird. Auf der einen Seite bin ich erleichtert, dass es endlich soweit ist - das ganze Gerede über mögliche Protestwähler*innen wird endlich konkret. Andererseits weiß ich, dass es ab heute schlechter für mich laufen wird. Die Frage ist jetzt nur noch, wie schlecht genau.
Klar ist: Im Laufe des Tages werden Leute zu ihren Wahllokalen gehen. Manche werden eine Partei wählen, die aktiv Politik gegen Menschen wie mich machen möchte - gegen People of Color. Denn ihrer Ansicht nach, sind wir schlechte Nachbar*innen, sorgen für Überfremdung und Kriminalität. Wir zerstören die deutsche Identität. Ihnen zufolge bin ich nicht mit Europa vereinbar - und schon gar nicht mit Deutschland. Ich stelle mir vor, wer heute alles sein*ihr Kreuz bei der AfD setzen wird. Ärzt*innen und Arbeitslose, Mütter und Enkelsöhne, die vielen Trolle, die täglich aberhunderte Kommentare in soziale Netzwerke schütten. Und diejenigen, die diese Kommentare liken.
Auch wenn mich diese Gedanken fast zurück ins Bett drücken, löse ich den Blick von der Deckenwand und stehe auf. Ich ziehe den weiten, grauen Wollpullover an. Ich bin eigentlich keine Frau, für symbolische Gesten. Aber heute fühle ich mich danach, als ich vor meinem Kleiderschrank stehe. Ich ziehe den langen graugestreiften Pullover an, den ich von meinem Opa geerbt habe. Dazu lege ich das silberne Armband von meiner Oma um. Meine Großeltern, sie hießen Heinz und Anne. Wie hätten sie den Tag heute wohl erlebt? Was hätten sie zur AfD gesagt? In Gedanken nehme ich sie heute mit zur Wahlurne. Meine Stimme ist diesmal primär eine gegen die AfD.
Wieso fragt mich eigentlich keine*r, wie das ist, hier zu leben?Besondere Tage wie dieser sind komisch, denn sie sehen so aus, wie jeder andere auch. Die Sonne scheint, ein schöner Septembertag. Doch heute fühle ich mich seltsam isoliert von der Welt, auf dem Weg zurück vom Wahllokal.
Viel mehr als sonst nehme ich wahr, dass die Menschen, die mir entgegen kommen, weiß sind. Sie können nicht nachvollziehen, wie ich mich heute fühle, denke ich mit einem Gefühl aus Unbehagen, Frustration und Wut im Bauch. Überfremdung. Jetzt scheine ich sie auch zu spüren. Da hat die AfD ja ganze Arbeit geleistet.
Überhaupt, warum fragt mich eigentlich keine*r, wie es ist, in einem Land zu Hause zu sein, in dem kaum jemand so aussieht wie man selbst? Wenn das doch eine der größten Ängste der AfD-Wähler*innen zu sein scheint, ich könnte ihnen erzählen wie es ist.
Wenn Leute eine anstarren, anfassen und beurteilen - ungefragt und ungeniert. Wenn man alte Frauen in der Bahn anlächelt, weil man weiß, dass sie sonst Angst vor einer haben und Verständnis für Kinder zeigt, die eine ängstlich beäugen, weil sie noch nie jemanden gesehen haben, die so Haare hat wie ich.
Oder wenn man ständig zu hören bekommt, auch von Freund*innen, dass es nicht etwa die eigenen Leistungen sind, sondern der Migrationshintergrund ist, der eine beruflich voranbringen würde. „Jemand wie ich" würde ja ständig gesucht.
Wer wirklich überhaupt kein Feingefühl hat, nennt es „Exotenbonus". Komisch nur, dass es sich meist genau gegenteilig anfühlt.
Und trotzdem: meist komme ich ziemlich gut klar im Alltag.
Ich würde solchen AfD-Wähler*innen sagen, es ist nur dann schlimm, wenn auf einmal ein Graben da ist, ein „wir" und ein „die" und nicht mehr Gemeinsamkeiten, sondern Unterschiede zählen.
Statt unserer Gemeinsamkeiten zählen nur noch UnterschiedeWenn ich mich so fühle, alleine und unverstanden, dann rufe ich am besten eine von meinen zwei älteren Schwestern an. Laura, die Älteste, geht auch heute dran.
Sie spielt gerade mit ihrem Sohn, ich höre ihn im Hintergrund immer wieder „Hallo Alice" sagen - er lernt gerade Sprechen. Mit Laura am Telefon kehrt das zurück, was mir seit heute Morgen abhanden gekommen war. Ein Gefühl von Zugehörigkeit. Laura versteht das Unbehagen, das ich im Bauch trage, ohne, dass ich es ihr groß erklären muss. Sie hat es auch.
Wir erinnern uns an 2013, als das Thema „Migration und Flüchtlinge" noch Nebenthema war. Die größte Sorge war, was mit Griechenland und der EU passieren wird. Wie sind wir bloß so weit gekommen, dass jetzt Nazis in den Bundestag einziehen? Wir machen das, was uns am meisten Sicherheit gibt: Analysieren uns einen Wolf. Und wir gehen alles noch einmal ab: Die Finanzkrise, die Eurokrise, die Ukrainekrise, der Brexit, die Flüchtlinge. Paris, Köln und Trump.
„Ich vermisse euch", sage ich. Meine Schwestern und ich, wir sind in drei Städten über Deutschland verstreut und trotzdem sind wir unsere wichtigsten Verbündeten. Das hat auch etwas mit unserer Herkunft zu tun. Mama ist Afroamerikanerin, Papa weißer Deutscher - und was das bedeutet, wie einen das prägt - das kann fast keine*r vollständig nachvollziehen. Nicht mal meine Eltern. Meine Schwestern schon. Mit ihnen hört das innere Gezerre auf, nicht genug dies oder zu viel jenes zu sein. Wohl auch deshalb träumen wir schon lange von einem großen Haus, in dem wir irgendwann einmal zusammen wohnen werden.
Sophie, unsere andere Schwester sagt immer, wir drei sollten nach Ghana ziehen. Mit Mama. Ghana, das ist unser Sehnsuchtsort geworden. Wir hatten immer verschiedene, aber Ghana hat sich durchgesetzt. Da ist es warm, da werden wir nicht schief angeschaut. Es ist der Ort, wo viele der Sklav*innen nach Amerika und in die Karibik verschifft wurden - es fühlt sich so an, als ob dort ein Stück unserer Wurzeln liegt. Außerdem kommt Sophies Freund aus Ghana. Also eigentlich kommt er aus Hahn bei Düsseldorf. Aber das wollen die Leute nicht hören, die ihn in Deutschland fragen: „Wo kommst du her?"
Auch er erzählt oft, wie seine Großmutter ihn davor gewarnt hat, dass die Stimmung hier jederzeit kippen könnt und dass er dann einen Ort brauche, wo er hingehen könnte. Diese Träumerei von Ghana wirkt besonders heute eher wie ein Plan B. Ein potentieller Ausweg.
Ich weiß noch, wie ich einmal meiner Freundin Esther davon erzählt habe, als wir bei ihr zu Hause beim Essen in München saßen. Das war Anfang 2015, das „Blütejahr" der Neuen Rechten. Jeden Montag sah ich dort die Absperrung für die Pegida-Demos auf dem Nachhauseweg. Damals hab ich ihr erzählt, dass ich gehe, sollte der Rassismus hier überhandnehmen. Sie hat mich angeschaut und meinte. „Nein, du darfst nicht gehen. Du musst kämpfen. Sonst ist hier ja alles verloren." Stimmt auch wieder, habe ich gedacht. Wäre es feige einfach zu gehen? Sich aus dem eigenen Land werfen zu lassen, weil andere sich das Vorrecht nehmen wollen zu bestimmen, wer hier leben darf und wer nicht? Auf der anderen Seite, habe ich mir das nicht ausgesucht. Vielleicht will ich mein Leben nicht damit verbringen, um etwas zu kämpfen. Doch wo wäre ich jetzt, wenn meine Vorfahr*innen auch so gedacht hätten...
Wer weiß, was ich machen werde. Wer weiß, was ich machen muss. Heute habe ich mit zwei Kreuzen ein wenig gekämpft. Ich gehe jetzt erst einmal arbeiten. Mein Job ist Nachrichten machen und Hasskommentare löschen. Das fühlt sich auch manchmal an wie ein Kampf. Aber wie einer, der sich lohnt.