Sie schweigen. Aus Scham oder Ungewissheit: Frauen, die hungern, kotzen oder fressen. Es beginnt mit einer Diät. Nicht nur Mädchen, auch erwachsene Frauen kann es erwischen. - Die Fotocollage ist aus der Serie "Puppenhaus" der in New York lebenden Schweizer Künstlerin Cornelia Hediger.
von Alexandra Eul
Jana hat das Monster an die Kette gelegt. „Manchmal rüttelt es noch gewaltig, aber dann weiß ich, was zu tun ist", sagt sie. Jana ist 35 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Als sie das erste Mal schwanger war, hat das Monster das letzte Mal so richtig gerüttelt. Was ist, wenn ich zunehme?! Da war sie wieder, diese Scheiß-Panik. Aber Jana hat das Monster im Griff. Bis dahin war es ein langer Weg. Jana arbeitet heute als Therapeutin für essgestörte junge Frauen. Die sollen nicht wissen, dass ausgerechnet die Frau, die Monster verjagt, selbst eins am Hals hat. Deshalb heißt Jana in diesem Text anders als in Wirklichkeit.
Gerdas Monster hat sich losgerissen. Seither tobt es durch ihr Leben. Das hat Spuren hinterlassen. Die Haut spannt über ihren Knochen und die wachen Augen wirken viel zu groß in ihrem schmalen Gesicht. Gerda ist 55 Jahre alt, verheiratet, studierte Biologin mit Karriere in der Pharmaindustrie. Aber das ist vorbei. Bis vor kurzem war sie in einer Klinik, weil ein Gewicht unter 39 Kilo lebensgefährlich ist. Seit ihrer Entlassung, Gewicht 47 Kilo, fährt Gerda wieder 50 Kilometer Rad am Tag und scheut sich, Kohlenhydrate zu essen. „Manchmal denke ich, ich werde es nicht schaffen", sagt sie. Gerdas neuer Chef kennt ihr Monster nicht. Deswegen heißt auch sie hier anders als in Wirklichkeit.
Nadines Monster schläft. Oder ist es tot? Schön wäre es! Nadine ist 36 Jahre alt, hat einen fürsorglichen Mann, eine kleine Tochter und einen Job, von dem Nadine prima leben kann. „Mit dem Kotzen bin ich durch", sagt sie. Nur manchmal, wenn der „innere Druck mal wieder zu groß wird", wünscht sie sich nochmal das befreiende Gefühl zurück: Essen bis es weh tut - und dann alles raus. Ihrem Mann hat sie von dem Monster nie erzählt. Deshalb will auch sie ihren wahren Namen nicht verraten.
Dies ist nicht nur die Geschichte von Jana, Gerda und Nadine, sondern die von Millionen erwachsenen Frauen, die auch mit dem Monster leben. Das Monster heißt Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge-Eating-Störung. Das sind die drei großen Formen der Essstörungen. Soweit die Theorie. Die Praxis ist komplizierter. Da treten Mischformen oder ganz atypische Fälle auf, die nicht eindeutig klassifiziert werden können nach den strengen Diagnosekriterien. Dass das Monster nicht nur Teenagerinnen, sondern auch erwachsene Frauen wie Jana, Gerda oder Nadine anfällt, wird nicht nur von den Medien ignoriert. Auch die Forschung zu Essstörungen bei Frauen jenseits der 35 liegt bisher weitestgehend brach. (...)
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