von Alexander Stirn
Zu den großen Stärken der Astronomie gehört es, Antworten auf Fragen zu liefern, die sich die meisten Menschen ohne die Astronomie gar nicht stellen würden. Zum Beispiel: Wie viele Möglichkeiten gibt es, den Start eines zehn Milliarden Euro teuren Weltraumteleskops so richtig zu versemmeln?
Die Antwort: dreihundertvierundvierzig.
Exakt 344 Fehlerquellen lauern, wenn am Mittwoch, 22. Dezember, wie geplant das neue James-Webb-Weltraumteleskop zu seinem Einsatzort aufbricht – 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Eine jede dieser Schwachstellen hat das Potenzial, die jahrzehntelang geplante Mission in einem Desaster enden zu lassen. Denn Webb ist nicht nur das leistungsfähigste, teuerste und komplexeste Weltraumteleskop, das bislang gebaut wurde. Es wird nicht nur am weitesten ins All blicken und dabei die schärfsten Bilder liefern. Es ist – das wird bei all diesen Superlativen gerne vergessen – auch die mit Abstand riskanteste Wissenschaftsmission, die bislang auf einer Startrampe gestanden hat.
Astronominnen und Astronomen nehmen das allerdings in Kauf, wenn auch zähneknirschend. Denn nicht nur die Risiken sind astronomisch, sondern auch die Chancen.
„Wir haben Ideen, wir haben Modelle, wie sich das Universum nach dem Urknall entwickelt hat“, sagt Physik-Nobelpreisträger John Mather Mitte November bei einer Online-Pressekonferenz der US-Raumfahrtbehörde Nasa. „Aber ganz ehrlich: Was genau passiert ist, wissen wir nicht.“ Webb soll das ändern. Das Weltraumobservatorium soll tiefer ins All blicken als alle Teleskope zuvor – und damit auch weiter zurück in die Vergangenheit. Fast bis zur Geburt des Universums.
Konnte das Hubble-Weltraumteleskop, das im Jahr 1990 gestartet wurde und zuletzt immer wieder technische Probleme hatte, Galaxien ausmachen, die etwa 500 Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden sind, soll Webb diese Grenze auf 100 Millionen Jahre verschieben – genau die Zeit, zu der sich die ersten Sterne und Galaxien im Universum gebildet haben könnten. „Wie diese Galaxien gewachsen sind, ist eine der großen offenen Fragen, und Webb soll uns die Antworten liefern“, sagt Mather, einer der Vordenker und wissenschaftlichen Väter des Mammutprojekts.
Die Forschenden interessiert aber auch, wie Sterne heutzutage entstehen. Das klingt einfacher als es in der Praxis ist, denn stellare Kinderstuben sind ausgesprochen schmutzig: Dichter Staub verhüllt die Babykrippen und verhindert allzu neugierige Blicke. Webbs Team hofft, dennoch hinter die staubigen Vorhänge spicken zu können: Anders als Hubble, das das Universum hauptsächlich im sichtbaren Licht beobachtet, setzt Webb auf infrarote Wellenlängen – auf Wärmestrahlung. Die lässt sich nicht so einfach abschütteln. „Während Staubteilchen das sichtbare Licht reflektieren, sucht sich infrarote Strahlung einen Weg um solche Hindernisse herum“, sagt John Mather. Das eröffnet ungeahnte Einblicke.
Zwar ist dieses Licht fürs menschliche Auge unsichtbar, dennoch wird Webbs-Team wieder farbenfrohe Bilder zaubern. Diese werden allerdings noch weniger mit der Realität zu tun haben als die bereits stark bearbeiteten Fotos von Hubble. Egal, für Astronomen und Astronominnen steht ohnehin etwas anderes im Mittelpunkt. Sie wollen das eingefangene Licht – ähnlich wie in einem Regenbogen – in seine farblichen Bestandteile zerlegen: in sein sogenanntes Spektrum. Atome und Moleküle aus fernen Galaxien oder Staubwolken, die Sternenlicht zunächst abfangen und dann wieder ausstrahlen, hinterlassen in den Spektren charakteristische Fingerabdrücke. Aus diesen Spuren können Forschende Rückschlüsse ziehen auf die chemische Zusammensetzung einer Galaxie, aber zum Beispiel auch auf deren Bewegung.
„Ein Bild mag mehr als tausend Worte sagen, ein Spektrum aber ist für Astronomen definitiv so viel wert wie tausend Bilder“, sagt Antonella Nota, Webb-Projektwissenschaftlerin bei der Europäischen Raumfahrtagentur Esa. Gemeinsam mit Kanada ist Europa Juniorpartner im Teleskopprojekt und steuert neben einer Ariane-Rakete für den Start am 22. Dezember auch zwei wissenschaftliche Instrumente bei. Eines davon, die hauptsächlich bei Airbus Space Systems in Ottobrunn und Friedrichshafen entwickelte Nirspec-Kamera, treibt die Spektroskopie auf die Spitze: Dank 250000 mikroskopisch kleiner Verschlüsse – ein jeder lässt sich einzeln ansteuern und ist dabei nicht größer als ein menschliches Haar – kann die Kamera die Spektren von bis zu 200 unterschiedlichen Galaxien und Sternen zugleich einfangen. Das spart kostbare Beobachtungszeit.
Spektroskopie ist auch entscheidend für eine andere wichtige Aufgabe, die Webb zukommen wird: Mehr als 4500 Planeten, die andere Sterne als unsere Sonne umkreisen, haben Astronominnen und Astronomen mittlerweile entdeckt. Heutige Teleskope sind allerdings zu schwach, um diese sogenannten Exoplaneten genauer zu studieren. Insbesondere können sie deren Atmosphäre nicht untersuchen und somit auch keine Hinweise auf mögliches Leben entdecken.
Webb soll das ändern, mit einem Trick: Zieht ein Exoplanet auf seiner Umlaufbahn zwischen seinem Heimatstern und dem Teleskop vorbei, die Forschung spricht von einem „Transit“, dann durchdringt ein winziger Teil des Sternenlichts die Atmosphäre des fernen Planeten – sofern diese existieren sollte. Die darin vorhandenen chemischen Elemente hinterlassen ihre Fingerabdrücke im aufgefangenen Licht. Mit etwas Glück sind unter diesen Elementen auch Stoffe, die auf die Existenz von Leben hindeuten.
Bei Exoplaneten von der Größe eines Jupiters sollte die Methode gut funktionieren. Ob Webb auch die dünne Atmosphäre eines felsigen, erdähnlichen Brockens studieren kann, ist unter Forschenden hingegen umstritten. Noch geringer dürften die Chancen bei der direkten Beobachtung eines Exoplaneten sein, auch wenn Webb selbst das versuchen soll. „Persönlich glaube ich, dass die großen Entdeckungen aus dem Transit und der Spektroskopie kommen werden“, sagt Antonella Nota im Nasa-Pressegespräch. „Dort werden wir die Quantensprünge sehen.“ Folglich gehört das Studium vielversprechender Exoplaneten auch zu den ersten wissenschaftlichen Aufgaben, die Webb etwa sechs Monate nach dem Start anpacken soll.
Dabei war das Teleskop ursprünglich gar nicht dafür gedacht, Exoplaneten zu untersuchen. Das allerdings liegt auch an Webbs langer Entwicklungsgeschichte: Erste Ideen gehen zurück bis in die 1980er Jahre. Im Sommer 1996 begann die Nasa schließlich offiziell mit der Entwicklung ihres künftigen Weltraumobservatoriums. Da war der erste Fund eines Exoplaneten um einen sonnenähnlichen Stern gerade einmal ein Jahr alt, und niemand konnte ahnen, welch rasante Entwicklung das Feld nehmen würde.
Das Webb-Teleskop, benannt nach dem US-Bürokraten James Edwin Webb, der die Nasa zu Beginn des Apollo-Mondprogramms leitete, wegen seiner Haltung zur Diskriminierung Homosexueller aber umstritten ist, sollte zu jenem Zeitpunkt im Jahr 2007 starten und nicht mehr als 750 Millionen Mark kosten – knapp 400 Millionen Euro. Doch wie das so ist bei Neuanschaffungen: hier ein paar Sonderausstattungen, da ein stärkerer Motor, gerne auch eine spezielle Lackierung, schon steigt der Preis und die Lieferfrist wird länger und länger. Da es für Weltraumteleskope, anders als für Neuwagen, zudem weder Zubehörliste noch Online-Konfigurator gibt, musste jeder Sonderwunsch eigens entwickelt, gebaut, getestet werden. Das ging ins Geld.
Zum Beispiel beim Spiegel. Für Teleskope gilt die einfache Formel: je größer desto besser. Der Durchmesser eines Spiegels bestimmt die Auflösung und die Schärfe der Bilder. Die Spiegelfläche ist entscheidend für die Empfindlichkeit des Teleskops – also die Menge an Licht, die es einfangen kann. Nach langen Diskussionen erhielt Webb daher einen Spiegel mit einem Durchmesser von 6,5 Metern. Der verspricht ausreichend Sehkraft, um einen Fußball in 550 Kilometern Entfernung auszumachen, und genügend Empfindlichkeit für die Körperwärme einer Biene auf der Mondoberfläche (sollte sich eines Tages ein Insekt dorthin verirren).
Das Problem: Der Frachtraum der Ariane 5, die Webb ins All bringen soll, hat einen Durchmesser von lediglich 5,4 Metern. Webbs Ingenieurinnen und Ingenieure mussten für ihr Teleskop daher einen faltbaren Hauptspiegel ersinnen – ähnlich einem Triptychon-Altar, dessen Seitentafeln sich aufklappen lassen. Aber auch beim Gewicht mussten sie tricksen. Ein massiver, 6,5 Meter großer Glasspiegel wäre viel zu schwer geworden für den Transport ins All.
Webbs Hauptspiegel setzt sich daher aus 18 sechseckigen Segmenten zusammen. Ein jedes besteht aus dem seltenen Leichtmetall Beryllium, das als besonders steif gilt und sich auch bei eisig kalten Temperaturen kaum zusammenzieht. Beschichtet sind die glattgeschliffenen Spiegelsegmente mit Gold, das dafür bekannt ist, infrarote Strahlung besonders gut zu reflektieren. Gold von der Masse eines Golfballs sei dafür benötigt worden, heißt es bei der Nasa.
Gemeinsam mit den Haltestrukturen, die die Segmente nach dem Entfalten mit einer Genauigkeit von einem Zehntausendstel eines menschlichen Haardurchmessers ausrichten sollen, kommt der gesamte Spiegel lediglich auf ein Gewicht von 625 Kilogramm. Hubbles massiver Glasspiegel, obwohl flächenmäßig nur ein Sechstel so groß, brachte beim Start eine Tonne auf die Waage.
Der Spiegel ist nicht die einzige Komplikation. Mitnichten. Da Webb Infrarotstrahlung einfangen soll, also Wärme, stört jeder Sonnenstrahl und jede Energiequelle an Bord. Für optimale Ergebnisse dürfen der Spiegel und die wissenschaftlichen Instrumente folglich nicht wärmer werden als minus 233 Grad Celsius. Ein dafür nötiges Kühlmittel wäre allerdings schnell verbraucht. Webbs Team setzt daher auf eine Art Sonnenschirm, den das Teleskop zwischen sich und der Sonne aufspannen soll. Es ist ein sehr, sehr großer Schirm.
Aus fünf Schichten setzt sich Webbs Sonnenschutz zusammen, allesamt mit den Abmessungen eines Tennisplatzes. Jede Schicht ist dabei so dünn wie eine Frischhaltefolie, besteht aus dem reißfesten und hitzebeständigen Material Kapton, das auch in Raumanzügen zum Einsatz kommt, und wurde mit Aluminium beschichtet. Zwischen den einzelnen Schichten befindet sich jeweils eine kleine Lücke mit dem Vakuum des Weltraums als zusätzlichem Isolator.
Die Idee: Selbst, wenn Staub und Mikrometeoriten mit der Zeit winzige Löcher in den Hitzeschutz schlagen sollten, sind diese in der Regel gegeneinander versetzt, so dass einfallendes Sonnenlicht nicht bis zur kalten Seite durchdringen kann. Der Wärmeschutz ist so gut, heißt es bei der Nasa, dass auf der heißen Seite beinahe Tee gekocht werden könnte, während die Temperaturen auf der eiskalten wissenschaftlichen Seite mehr als 300 Grad Celsius tiefer liegen sollen.
Zum Start muss allerdings auch der Sonnenschutz platzsparend gefaltet und gut verstaut werden. Ein komplexes System aus Teleskopstangen, mehreren hundert Metern Seilen, 400 Umlenkrollen und acht Motoren wird nötig sein, um ihn im All wieder auszufahren, zu spannen und zu verankern. Etwa 80 Prozent der 344 potenziell katastrophalen Fehlerquellen, die die Nasa ausgemacht haben will, hängen direkt mit diesem Entfalten zusammen, sagt Webb-Ingenieur Mike Menzel im Medienbriefing.
Normalerweise versuchen Missionsverantwortliche so etwas zu verhindern. Raumfahrt liebt Redundanz: Alle wichtigen Systeme sind in der Regel zwei-, drei- oder gar vierfach vorhanden; im Notfall gibt es unterschiedliche Wege, ein Ziel zu erreichen. „Bei einem Auslösemechanismus ist es allerdings beinahe unmöglich, diesen komplett redundant auszulegen“, sagt Menzel – zumindest dann, wenn das Teleskop nicht sämtliche Gewichtslimits sprengen soll.
Das Webb-Team hat daher Notfallpläne für alle möglichen Situationen entwickelt. Es kann sein Teleskop aus der Ferne drehen, es kann klemmende Teile gezielt dem Sonnenlicht aussetzen, es kann das 6,5 Tonnen schwere Monstrum sogar leicht durchschütteln.
Vor allem aber haben die Ingenieure und Ingenieurinnen ihr Teleskop vor dem Start ein ums andere Mal getestet: zunächst die einzelnen Komponenten, dann ganze Baugruppen, schließlich das komplette Observatorium. Sie haben Webb ein- und wieder ausgepackt, sie haben es den erwarteten Vibrationen beim Start ausgesetzt, sie haben es in eine riesige Vakuumkammer gepackt. Sie haben Probleme gefunden, behoben und viele Tests noch mal machen müssen. Und sie haben immer wieder auf die 344 Fehlerquellen geschaut. „Wenn wir solche zentralen Schwachstellen identifizieren, bekommen sie eine Spezialbehandlung“, sagt Mike Menzel. „Dann gibt es zusätzliche Prüfpunkte und zusätzliche Tests.“
Bei all dem haben die Teams nicht zuletzt vom Hubble-Teleskop gelernt – wenn auch auf die harte Art: Hubble wurde damals vor dem Start nicht als Komplettpaket getestet. Deshalb fiel auch nicht auf, dass der Spiegel des Teleskops falsch geschliffen war. Hubble war fehlsichtig. Ein astronautischer Rettungseinsatz wurde fällig, bei dem das Teleskop in etwa 600 Kilometern Höhe eine Sehhilfe bekam. Auch später mussten immer wieder Raumfahrende mit Akkuschraubern und Ersatzteilen anrücken, um Hubble betriebsbereit zu halten.
All das wird beim Webb-Teleskop nicht möglich sein. Sollte dessen Start wie geplant klappen, wird sich das Observatorium bereits 26 Minuten später von der Ariane 5 lösen und direkt Kurs auf seinen künftigen Einsatzort nehmen: 1,5 Millionen Kilometer entfernt von der Erde – und damit auch von jedem Servicetechniker. Alles, was nach dem Start passiert, jede der 344 Schwachstellen, die es innerhalb von 29 Tagen zu überwinden gilt, entscheidet dann: Weltraumteleskop oder Weltraumschrott?
Es ist ein riskantes Spiel und ein teures, auf das sich die Raumfahrtagenturen eingelassen haben – fast wie ein Pokerspieler, der bei gutem aber nicht hundertprozentig sicherem Blatt sein gesamtes Geld als Einsatz in die Mitte wirft. Alles oder nichts.
„Das Teleskop, das die Astronomie aufgefressen hat“, titelte das Fachblatt Nature bereits vor mehr als zehn Jahren[AS1] . Damals sollte Webb noch 2014 starten und nicht mehr als fünf Milliarden Euro verschlingen. Inzwischen liegen die Gesamtkosten, wie Casey Dreier von der US-Lobbygruppe Planetary Society berechnet hat, bei etwa 10,5 Milliarden Euro. Mit seinen beiden wissenschaftlichen Instrumenten und dem Raketenstart übernimmt Europa, nach Angaben von Esa-Wissenschaftschef Günther Hasinger, davon etwa 700 Millionen Euro.
Viel Geld. Dabei hatte der US-Kongress im Jahr 2018, als die Kosten mal wieder explodiert waren und kein Ende absehbar schien, eine Obergrenze von knapp acht Milliarden Euro festgelegt. Andernfalls: Startverbot. Doch Webb war längst zu groß und zu teuer geworden, um das Projekt noch stoppen zu können. Widerwillig wurden weitere Milliarden locker gemacht.
Für die Astronomie bleibt das nicht ohne Folgen. Jeder dritte Dollar, den die Nasa in den vergangenen Jahren für Astrophysik ausgegeben hat, ist ins Webb-Teleskop geflossen, kalkuliert Dreier im Blog der Planetary Society[AS2] . Für andere Projekte blieb kaum etwas übrig; lediglich ein paar kleinere Missionen konnte die Nasa starten. Dagegen wird das nächste große Weltraumteleskop, der dringend benötigte Hubble-Nachfolger für Beobachtungen im sichtbaren Licht, nun frühestens 2027 abheben. Und das, obwohl sich die astronomische Forschungsgemeinde bereits im Jahr 2010 nachdrücklich für Bau und Start des Observatoriums stark gemacht hatte.
Casey Dreier hält die Webb-Milliarden dennoch für zwar riskantes, aber gut angelegtes Geld. Auch Hubble habe einst sämtliche Zeit- und Kostenpläne gesprengt, dann aber völlig neue, unverhoffte Perspektiven aufs Weltall eröffnet. „Sollte Webb erfolgreich sein“, so Dreier, „dann werden die Dollars und Cents für die Entwicklung dieses technischen Wunderwerks verschwindend gering erscheinen im Vergleich zu den unschätzbaren Erkenntnissen, die uns das Teleskop über den Kosmos liefern wird.“
Große Hoffnungen. Jetzt muss bei Webbs Dienstreise nur noch alles perfekt funktionieren.
Exakt 344-mal.