Alexander Stirn

Freier Wissenschaftsjournalist, München

1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

Von Null auf Lichtgeschwindigkeit in wenigen Millimetern

Eine auf Computersimulationen beruhende Visualisierung der Plasmabeschleunigung. Ein Laserpuls (rot) regt im Plasma eine Welle (blau) an, auf der die Elektronen (weiss) surfen. (Sören Jalas / Universität Hamburg)

Wer Teilchen auf höchste Energien beschleunigen will, braucht viel Platz. Mit Plasmen und intensiven Laserstrahlen wollen Forscher demonstrieren, dass es auch im Hosentaschenformat geht.

Von Alexander Stirn

Andreas Maier hat die Zukunft der Teilchenbeschleuniger in der Hand. Genauer gesagt: zwischen Daumen und Zeigefinger. Gerade einmal vier Millimeter misst der unscheinbare Kristall, den Maier stolz präsentiert. Mitten hinein hat der Physiker, der am Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Hamburg das Projekt "Laser-Plasma Driven Light Sources" leitet, einen winzigen Kanal gefräst, der fürs menschliche Auge kaum sichtbar ist. In ihm sollen künftig Teilchen auf immense Energien beschleunigt werden - genauso wie in den grossen Vorbildern. Vielleicht sogar noch besser.

Solche Beschleuniger hätten das Potenzial, einen Tausendstel der Grösse herkömmlicher Anlagen und zugleich eine tausendmal stärkere Beschleunigung als diese zu erreichen, sagt Maier. Die Erwartungen sind riesig, die ersten Ergebnisse durchaus vielversprechend. Vor wenigen Wochen hat der Hamburger Mini-Beschleuniger zum Beispiel seine ersten Röntgenblitze ausgespuckt. "Die Energie passt bereits", sagt Maier. "Die Qualität noch nicht."

Bis jetzt sind Teilchenbeschleuniger eine überaus sperrige Angelegenheit. Der ringförmige Large Hadron Collider (LHC) am Genfer Forschungszentrum Cern, mit dem Forscher die grundlegenden Fragen der Physik beantworten wollen, hat eine Länge von 26,6 Kilometern. Und dem brandneuen europäischen Röntgenlaser XFEL, der dieser Tage in Hamburg offiziell den Betrieb aufnimmt, ist ein 2,1 Kilometer langer Linearbeschleuniger vorgeschaltet.

Auf dieser Rennstrecke werden Elektronen durch supraleitende Beschleunigungsmodule auf 99,9999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit (oder eine Energie von 17,5 Gigaelektronenvolt) beschleunigt. Anschliessend werden die fast lichtschnellen Teilchen dazu angeregt, extrem helle und extrem kurze Röntgenblitze abzustrahlen. Mithilfe der gepulsten Röntgenstrahlung wollen Forscher chemische Reaktionen filmen und tief in den Aufbau der Materie blicken. Das Schweizer Pendant, der SwissFEL am Paul-Scherrer-Institut im Kanton Aargau, misst auch noch 740 Meter.

Künftig, so das phantastisch anmutende Versprechen der Forscher, geht all das unzählige Nummern kleiner. Dann soll vieles von dem, was die heutigen Anlagen leisten, in der Grösse eines Schuhkartons möglich werden. Zumindest aber auf einem Labortisch.

Von solchen Dimensionen ist Maiers experimenteller Beschleuniger, LUX genannt, noch weit entfernt. Über zwei Stockwerke erstreckt sich die Anlage, die der Physiker und sein Team in den vergangenen fünf Jahren in einem ausgedienten Bunker auf dem Hamburger Desy-Gelände aufgebaut haben. In einem Reinraum, der auf exakt 20 Grad Celsius gekühlt wird und der nur mit Kittel, Haarnetz und Überschuhen zu betreten ist, produziert ein 200 Billionen Watt starker Laser winzige, äusserst helle Lichtpakete. Über Spiegel und Vakuumröhren landen sie im Keller.

Hinter einer gelben Gittertür, in einer Tunnelröhre, sitzt das Herzstück der Anlage: der vier Millimeter grosse Kristall, umgeben von einer silbrig schimmernden Edelstahlröhre. "In dieser Kammer passiert die ganze Magie", sagt der Doktorand Niels Delbos. "Licht kommt auf der einen Seite herein, Elektronen kommen auf der anderen Seite heraus - und das alles im Hosentaschenformat."

Die Idee: Trifft ein extrem starker Laserstrahl auf ein Wasserstoffgas, dann schlägt er aus den Molekülen negativ geladene Elektronen heraus und fegt sie wie ein Schneepflug zur Seite. Die deutlich schwereren, nun positiv geladenen Atomrümpfe bleiben zurück. Ist der Laserblitz durchgerauscht, versammeln sich die Elektronen in dessen Kielwasser und werden von der positiv geladenen Plasmawelle vor ihnen beschleunigt - ähnlich einem Surfer in der Heckwelle eines Schiffs. Die elektrischen Felder sind dabei derart stark, dass trotz der kurzen Strecke extreme Beschleunigungen möglich werden.

Derzeit erreichen die surfenden Elektronen eine Energie von 0,6 Gigaelektronenvolt. An die Energie des grossen XFEL-Beschleunigers, der unweit von Maiers Bunker seinen Anfang nimmt, kommt LUX damit noch nicht heran. Immerhin übertrifft er aber bereits die Energie des 70 Meter langen Vorbeschleunigers, der die Desy-Anlagen mit Elektronen versorgt.

Im Tunnel durchläuft der Elektronenstrahl aus der magischen Plasmakammer anschliessend eine Slalomstrecke, in der ein starkes Magnetfeld alle 2,5 Millimeter seine Richtung ändert. Die Elektronen werden auf einen Schlingerkurs gezwungen und geben bei jeder Richtungsänderung unweigerlich Röntgenstrahlung ab - die gleiche Technik, die in grösserem Massstab auch beim SwissFEL und beim neuen European XFEL angewandt wird, um Röntgenlicht zu generieren.

Trotz den bisherigen Erfolgen gibt sich Andreas Maier bescheiden. "Unsere Anlage ist kein Ersatz für den XFEL, sie ist ein Blick 20 oder 30 Jahre in die Zukunft", sagt der Physiker. Und auch dann werde es wichtig sein, unterschiedliche Beschleuniger mit ihren jeweiligen Stärken im Werkzeugkasten zu haben. Maier ist Diplomat genug, um zu wissen, dass er dem neuen European XFEL nicht die Show stehlen darf - jetzt, wo die Anlage nach acht Jahren Bauzeit und Kosten von gut 1,4 Milliarden Franken endlich fertig geworden ist. Etwa 20 Millionen Franken hat die Schweiz dazu beigesteuert, die mit 1,5 Prozent am XFEL-Projekt beteiligt ist. Maiers Beschleuniger hat in den vergangenen fünf Jahren nur 8 bis 9 Millionen Franken gekostet. Ein Schnäppchen, auch im internationalen Vergleich.

Die Konkurrenz ist gross. Mehr als ein Dutzend Forschergruppen versuchen sich weltweit an Plasmabeschleunigern. Den Weltrekord hält ein Forschungsteam vom Lawrence Berkeley National Laboratory. Mit einem der leistungsfähigsten Laser auf der Welt beschleunigten die Forscher Elektronen in einem 9 Zentimeter langen Plasma auf 4,25 Gigaelektronenvolt. Das ist immerhin ein Viertel der Energie des XFEL.

Forscher arbeiten aber nicht nur an Plasma-basierten Konzepten, um die riesigen Beschleuniger endlich schrumpfen zu lassen. Keine 300 Meter von Maiers Bunker entfernt experimentiert der Physiker Franz Kärtner zum Beispiel mit sogenannten Terahertzstrahlen. Deren Wellenlänge ist deutlich geringer als jene der Mikrowellen, die die Elektronen in herkömmlichen Beschleunigermodulen auf Trab bringen. Der Vorteil: Alles wird nur einen Tausendstel so gross. Entsprechend filigran können die Strukturen in den neuartigen Modulen ausfallen - zum Beispiel Kanäle, geritzt in eine Glasplatte: Terahertzstrahlung, die von unten auf diese Platte fällt, breitet sich in dem unebenen Material unterschiedlich schnell aus; ihre Wellen sind über den Ritzen und Kämmen gegeneinander verschoben. Rasen nun Elektronen direkt über die Platte, erwischen sie von jeder Welle immer genau jene Komponente, die sie nach vorne beschleunigt.

Theoretisch sollte sich damit die zehnfache Energie eines konventionellen Beschleunigers erreichen lassen - und das mit Elementen, die gerade einmal 1,5 Zentimeter lang und 1 Millimeter dünn sind. Noch ambitionierter ist ein Projekt, das von der Stiftung des Intel-Gründers Gordon Moore mit umgerechnet 13 Millionen Franken gefördert wird und an dem auch das Paul-Scherrer-Institut sowie die ETH Lausanne beteiligt sind. Das Ziel ist ein Beschleuniger, der auf einem Mikrochip Platz hat.

Wohin all das in der Praxis führen wird, ist heute noch nicht abzusehen. Die neuartigen Beschleuniger versprechen äusserst kurze Röntgenblitze. Dadurch könnten sie helfen, so Kärtner, extrem schnelle chemische Reaktionen im Bild festzuhalten, zum Beispiel die Fotosynthese. Noch leiden die Anlagen, speziell die Plasmabeschleuniger, allerdings unter ihrer Trägheit: Der European XFEL schafft 20 000 Röntgenblitze in der Sekunde, LUX quält sich zu fünf Blitzen.

Um das zu ändern, brauche man dringend einen Technologieschub in der Laserentwicklung, sagt Maier. Vielversprechender erscheint allerdings der Einsatz der neuen Beschleuniger in der medizinischen Diagnostik und bei der Behandlung von Tumoren. Die Qualität der Strahlen ist hier nicht ganz so entscheidend wie in der physikalischen Grundlagenforschung. Zudem könnten kompakte Beschleuniger, die auf jeden Tisch passen, alltäglich in vielen radiologischen Praxen eingesetzt werden.

"Hauptsächlich aber freuen wir uns, dass wir ein tolles Spielzeug haben", sagt Maier und lacht. Denn im Gegensatz zum Prestigeprojekt European XFEL, das mit grossen Versprechen und hohen Erwartungen startet und unbedingt wissenschaftliche Ergebnisse liefern muss, verspüren Maier, Kärtner und ihre Kollegen keinen Druck. "Was wir machen, ist letztlich Beschleunigerforschung - wir arbeiten daran, die Grenzen dieses Feldes auszuloten und zu verschieben", sagt Niels Delbos. Herumbasteln und Ausprobieren sei da ausdrücklich erlaubt.

Zum Original