Alexander Stirn

Freier Wissenschaftsjournalist, München

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Die Raumfahrt hat ein Müllproblem

Viel Schrott umkreist die Erde in erdnahen Umlaufbahnen (die einzelnen Objekte sind stark vergrössert). (Bild: ESA)

Harpunen, Netze und Roboterarme: Ideen zur Beseitigung gefährlicher Schrottteile in der Erdumlaufbahn gibt es genug. Aber niemand will dafür bezahlen.

Alexander Stirn

Das Stückchen Schrott war unscheinbar, etwa einen Zentimeter lang und lediglich 0,2 Gramm schwer - und dennoch brachte es vergangenes Jahr beinahe einen der wichtigsten europäischen Satelliten zur Strecke: Mitte August bemerkten die Ingenieure von Sentinel-1A, einem über zwei Tonnen schweren und 300 Millionen Franken teuren Radarsatelliten, dass damit etwas nicht stimmte. Erst änderte sich dessen Flughöhe, dann die Orientierung, schliesslich fiel der Strom aus.

Ein winziges Teilchen - offenbar Müll von einem anderen Satelliten oder einer ausgebrannten Raketenstufe - hatte sich rücklings durch ein Solarpaneel von Sentinel-1A gebohrt. Ein Areal mit vierzig Zentimetern Durchmesser wurde dabei verwüstet. Zum Glück konnten die Ingenieure den Schaden schnell überbrücken, heute arbeitet ihr Radarspäher wieder tadellos. Eine Sorge aber bleibt: Niemand sah den Schrott kommen, und niemand hätte ihn sehen können. Sentinel-1A war der Bedrohung hilflos ausgeliefert und ist es wie alle anderen der über tausend aktiven Satelliten im Erdorbit weiterhin.

"Weltraumschrott ist nicht länger Science-Fiction. Er ist Fakt, und er ist sehr gefährlich", sagt Johann-Dietrich Wörner, Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA). Gut 750 000 Geschosse mit einer Grösse von einem Zentimeter oder mehr rasen derzeit um die Erde - bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 40 000 Kilometern pro Stunde. Sie sind das Ergebnis von Explosionen, Kollisionen, alternden Satelliten. Hinzu kommen etwa 20 000 Teilchen mit einem Durchmesser von mindestens zehn Zentimetern - noch gefährlicher, aber vom Erdboden aus immerhin sichtbar.

Um darüber zu diskutieren, wie gross die Gefahr ist und was mit dem Müll gemacht werden kann, hat die ESA jetzt mehr als 300 Experten aus aller Welt in ihr Kontrollzentrum nach Darmstadt südlich von Frankfurt eingeladen. Die viertägigen Beratungen zeigten: An Ideen mangelt es nicht. Die allerdings kosten Geld - und das will niemand aufbringen.

Derartige Konferenzen organisiert die ESA bereits seit Anfang der 1990er Jahre. Damals war Weltraumschrott noch ein eher theoretisches Thema, eine Spielwiese für Wissenschafter. Heute ist er - wie Sentinel-1A erfahren musste - eine reale Bedrohung. Dies, obwohl über Ansätze, wie der Schrott reduziert werden könnte, seit Jahren diskutiert wird. Doch: "Da passiert nichts", sagt Holger Krag, Leiter des ESA-Büros für Weltraumtrümmer in Darmstadt. Stattdessen verschärfe sich das Problem. "Inzwischen haben wir einen Punkt erreicht, an dem es alle zu spüren bekommen." Jeder ESA-Satellit muss ein- bis zweimal im Jahr ein Ausweichmanöver fliegen, um den grossen, bekannten Schrottteilen aus dem Weg zu gehen.

Dabei wäre die Müllvermeidung im All gar nicht so schwer: Die meisten Fragmente, die um die Erde schwirren, stammen von explodierten Satelliten. Nach harten Jahren im All mit ultravioletter Strahlung, kosmischen Teilchenschauern und sprunghaften Temperaturwechseln von 100 Grad Celsius beim Eintauchen in den Erdschatten halten viele Satelliten dem Druck nicht mehr stand. Sie explodieren. Mehr als 250 solcher Fälle haben Ingenieure in den vergangenen Jahrzehnten registriert.

"Alles, was nach Ende der Mission an Bord noch Energie enthalten könnte, muss daher beseitigt werden", sagt Krag. Dazu gehört, den Treibstoff komplett zu verbrennen, alle Drucktanks zu entlüften, die Batterien gezielt zu entladen. Das reicht aber noch nicht: In 800 bis 1200 Kilometern Höhe, wo die meisten erdnahen Satelliten ihre Runden drehen, bremst nichts die Raumfahrzeuge ab. Sie bleiben, auch nach dem Abschalten, im All - und so steigt dort die Wahrscheinlichkeit einer Kollision stetig. Und da jeder Crash neue Trümmer erzeugt, droht die Müllmenge lawinenartig anzuwachsen. Die begehrten Umlaufbahnen könnten deshalb schon bald unbrauchbar werden.

In 600 Kilometern Höhe ist die Erdatmosphäre hingegen noch so dicht, dass ihre Ausläufer die Satelliten abbremsen. Die Raumfahrzeuge verlieren an Höhe und verglühen schliesslich in der Atmosphäre - eine natürliche Form der Müllabfuhr. Ziel müsste es daher sein, ausgediente Satelliten zunächst auf niedrigere Bahnen zu bringen und sie erst dann abzuschalten. "Leider setzen derzeit nur 60 Prozent aller Missionen diese Massnahmen um", sagt Krag. Das sei zu wenig.

Diese Zahl zu erhöhen, fällt schwer. Denn die sachgerechte Müllentsorgung im Orbit kostet Geld: Um einen Satelliten auf eine niedrigere Umlaufbahn zu bugsieren, werden oft mehrere hundert Kilogramm Treibstoff benötigt, mitunter sogar ein zusätzliches schweres Triebwerk. Muss deswegen eine leistungsfähigere Rakete eingesetzt werden, steigen die Kosten schnell um 30 Millionen Franken - zu viel für private Betreiber.

Um das Problem dennoch in den Griff zu bekommen, planen Raumfahrtingenieure komplexe Aufräummissionen. Dabei sollen die grössten Satellitenleichen, die bei einem Unfall am meisten Trümmer produzieren, gezielt entsorgt werden. Eine Mammutaufgabe.

"Der Schlüssel zur aktiven Beseitigung ist eine möglichst genaue Kenntnis der Trümmerteile", sagt Thomas Schildknecht, Vizedirektor des Astronomischen Instituts der Universität Bern. Am Observatorium Zimmerwald südlich von Bern untersucht er dazu das fahle Licht, das von Weltraumschrott reflektiert wird. Nimmt es periodisch ab und zu, deutet das auf eine stabile Rotation hin; flackert das Licht wild, taumelt das Trümmerteil vermutlich. Auch Geschwindigkeit und Richtung der Rotation lassen sich aus den Lichtkurven ablesen. "Ganz egal, wie diese Teile eingefangen werden sollen, wir müssen vorher ihre Bewegung kennen", sagt Schildknecht.

An Ideen, wie die einmal katalogisierten Satellitentrümmer dereinst eingefangen werden können, mangelt es nicht: Manche Forscher setzen auf Harpunen, andere auf Netze. Einige wollen die ausser Kontrolle geratenen Satelliten mit Roboterarmen greifen, andere wollen sie mit elektrischen Feldern anlocken. Bis anhin zeigen allerdings weder private Satellitenbetreiber noch staatliche Raumfahrtagenturen grosse Ambitionen, den von ihnen verursachten Dreck im Orbit zu entsorgen. "Wenn Menschen einen Computer kaufen, haben sie kein Problem damit, ein paar hundert Franken auszugeben. Einen ähnlich hohen Betrag für die spätere Entsorgung wollen aber die wenigsten auf den Tisch legen", sagt ESA-Chef Wörner. Das sei in der Raumfahrt genauso.

Der ESA-Chef sieht daher sowohl Satellitenbetreiber als auch Raumfahrtagenturen in der Pflicht - Erstere wegen des Verursacherprinzips, die anderen, weil Müllentsorgung im All letztlich eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Die 22 Mitgliedsstaaten der ESA sehen das offenkundig noch nicht so: Als die europäischen Raumfahrtminister im Dezember zu Budgetberatungen in Luzern zusammenkamen, stand e.Deorbit, das Konzept einer orbitalen Müllabfuhr, nicht einmal auf der Tagesordnung. Aufgeben will Wörner trotzdem nicht. Der ESA-Chef setzt zum Aufräumen im All auf internationale Kooperationen - und auf Hartnäckigkeit: "Beim nächsten Ministerrat in drei Jahren werden wir garantiert darauf zurückkommen."

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