Viele Briten können sich die steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten. Tafeln und Lebensmittelretter versorgen effizient und routiniert Millionen Menschen. Wie konnte es so weit kommen?
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Von diesem Warenhaus in einem unscheinbaren Vorort von Birmingham werden Bedürftige einer ganzen Region in England mit Lebensmitteln versorgt. Dahinter steht Fareshare. Brot, Gemüse, Milchprodukte – die NGO verteilt überschüssige Nahrungsmittel an Schulen, Tafeln und andere soziale Einrichtungen. In den vergangenen Jahren ist in Großbritannien ein riesiges professionelles Netzwerk aus Nonprofit-Initiativen entstanden, das mehrere Millionen Menschen versorgt. Warum ist das notwendig? Dieser Frage gehen wir nach.
Wir treffen Maria, eine der dienstältesten ehrenamtlichen Helferinnen. Heute erwartet sie eine große Lebensmittellieferung. Maria ist seit zehn Jahren bei Fareshare, kommt an mindestens drei Tagen die Woche. In letzter Zeit braucht man sie hier aber eher an fünf Tagen:
Maria, Helferin Fareshare Midlands:
»Wir geben Unmengen von Lebensmitteln aus, und trotzdem brauchen die Menschen mehr Essen. Es ist eine Krise da draußen.«
Großbritannien steckt in einer tiefen Preiskrise, der sogenannten Cost of Living Crisis. Allein die Inflation der Nahrungsmittelpreise im Land liegt im April bei über 19 Prozent. Der größte britische Tafelverband hat im vergangenen Jahr mehr als drei Millionen Essenspakete an Kund:innen verteilt – so viele wie noch nie im Vereinigten Königreich. Auch die Anzahl der sogenannten Food Banks stieg im vergangenen Jahr auf 2600.
Das sind fast drei Mal so viele wie im bevölkerungsstärkeren Deutschland.
Hinzu kommen die hohen Energiekosten. Fast die Hälfte der Briten hatten laut einer Umfrage Schwierigkeiten, ihre Gas- und Stromrechnungen zu bezahlen. So geht es auch Mary Obomese. Sie lebt in Woolwich im Südosten Londons und arbeitet für den britischen Gesundheitsdienst NHS. Im Dezember nutzte sie eine der Tausenden Wärmestuben, die plötzlich im ganzen Land benötigt wurden. Wir werden sie wiedertreffen, um zu sehen, wie es ihr heute geht.
10 Uhr. Die große Lieferung kommt bei Fareshare an – ein 40-Tonner vom Discounter TESCO. Er bringt Waren, die nicht mehr ganz frisch, aber genießbar sind. Auch von Bauernhöfen und kleinen Geschäften erhält Fareshare Produkte – und verteilt sie weiter.
Mit einer Handvoll Niederlassungen startete die Initiative vor rund zwanzig Jahren, heute gibt es 34. Allein bei Fareshare sind 1500 Menschen angestellt, hinzu kommen 5000 unbezahlte Helfer. Zusammen haben sie im vergangenen Jahr 54.000 Tonnen Lebensmittel gerettet.
Auch Maria nimmt regelmäßig Brot oder Obst aus dem Lager mit. Die ausgebildete Pflegerin kümmert sich zu Hause um drei ihrer fünf Kinder. Da zählt jeder Penny.
Maria, Helferin Fareshare Midlands:
»Neulich habe ich Butter, nein, Zucker gekauft. Und der ist gerade teurer geworden. Bei Lidl hat er 90 Pence gekostet, und jetzt ist er auf 1,09 Pfund gestiegen. Und ich denke: Moment mal. Ich war erst letzte Woche dort. Wie kann das sein... Es ist, als würde es jede Woche so gehen.«
So wie Maria geht es neuerdings vielen Briten. Das sagt auch Suzanne McBride. Sie ist aus dem 40 Kilometer entfernten Coventry gekommen. Jeden Dienstag holt McBride die Ration für ihre Initiative »Grub Hub« ab – ein Gemeinschaftssupermarkt mit unschlagbar niedrigen Preisen. Wir werden sie dorthin begleiten.
Die Zahl der Bedürftigen sei zwar schon zu Pandemiezeiten gestiegen, sagt McBride. In der jetzigen Krise aber habe sich das Publikum verändert.
Suzanne McBride, Charity »Grub Hub«:
»Früher kamen viele Sozialhilfeempfänger zu uns, die einfach nur Unterstützung brauchten. Aber jetzt kommen tatsächlich viele Berufstätige und Menschen, deren Einkommen genau an der Grenze liegt. Solche, die keinen Anspruch auf kostenlose Schulmahlzeiten haben und so weiter. Oft ist es ihnen sehr unangenehm, zu uns zu kommen. Aber wir versuchen, ihnen zu versichern, dass es viele Menschen gibt, die sich in der gleichen Situation befinden.«
Rund 760.000 Menschen waren nach Angaben des größten Food-Bank-Netzwerks im Land erstmals auf Tafeln angewiesen, darunter viele Berufstätige. Eine davon ist Mary Obomese. Die 53-Jährige arbeitet in Teilzeit und verdient netto 1300 Pfund, umgerechnet etwa 1500 Euro. Seit den Preissteigerungen kann sie davon allein nicht mehr leben.
Mary Obomese, NHS-Mitarbeitern:
»Als ich früher einkaufen ging, konnte ich mit 50 Pfund meinen Kühlschrank füllen und hatte sogar noch etwas übrig. Aber jetzt mit 50 Pfund – da bekommst du nur noch die Hälfte von dem, was du früher gekauft hast.«
Mary ist die Hauptverdienerin ihrer Familie. Sie wohnt mit ihrem Mann und zwei Kindern in einer Vierzimmerwohnung. Ihre 900-Euro-Miete wird zum Großteil vom Wohngeld abgedeckt. Die weiteren Fixkosten belaufen sich auf umgerechnet rund 530 Euro. Dazu kommen die Ausgaben für Lebensmittel – und im Winter die nun sehr hohen Heizkosten, die Obomese heute noch abstottert.
Mary Obomese, NHS-Mitarbeitern:
»Ich weiß, dass wir, wenn das Geld kommt, das Doppelte einplanen müssen, weil sich alles verdoppelt hat. Wir müssen also doppelt sparen. Wenn man die Stromrechnung, die Wasserrechnung, die Transportkosten und andere Dinge abzieht, bleibt nichts mehr übrig.«
Momentan arbeitet Mary an einer Geschäftsidee. Sie hofft, dass diese ihre Situation verbessern könnte. Doch warum ist die Lage für viele Briten so kritisch? Nach Brexit, Coronapandemie und wechselnden Premierministern scheint Großbritannien nicht aus dem Krisenmodus herauszukommen. Die Prognosen für die britische Wirtschaft sehen schlecht aus. Die Energiekrise traf das Land hart, da hier mehr Menschen mit Gas heizen und kochen als in Deutschland. Jahrelang stagnierten die Löhne, und eine rigorose Sparpolitik der konservativen Regierungen sorgte dafür, dass weniger ins Sozialsystem investiert wurde als in die Finanzindustrie. Das rächt sich nun.
Beim Community Supermarket in Coventry haben Suzanne McBride und die ehrenamtlichen Helferinnen alles für die Wartenden vorbereitet.
Suzanne McBride, Initiative »Grub Hub«:
»Entschuldigung, dass ihr warten musstet. Huch, ich falle hier schon für euch hin. Wir sind bereit.«
Anders als bei den Food Banks können die Menschen hier ohne einen Anspruchsnachweis vorbeikommen. Das Essen ist allerdings nicht umsonst, aber deutlich günstiger als im Supermarkt. Fünf Pfund zahlt man pauschal für drei große Einkaufstüten voll frischem Obst, Gemüse und Tiefkühlkost. Etwa 120 Familien nutzen das Angebot – Andi und Joan, notgedrungen, seit Oktober:
Reporterin:
»Und diese Sachen sind alle günstiger als im Supermarkt, richtig?«
Joan, Kundin:
»Diese Sachen hier sind sogar umsonst. Abgesehen von Snacks, wir haben Snacks gekauft, die 10 oder 20 Pence kosten. Wir haben also etwas Schokolade als kleine Belohnung gekauft.«
Andi, Kunde:
»Wir haben all das für fünf Pfund bekommen. Plus zwei Pfund. Das alles ist bestimmt 30 Pfund wert«
Joan, Kundin:
»Andi hat die Diagnose Alzheimer bekommen und deshalb seinen Job verloren. Wir sind dadurch in die Armut abgerutscht. Das hier hilft uns also unheimlich.«
Der Supermarkt ist nicht der einzige Dienst, der von dem Gemeinschaftszentrum in Coventry angeboten wird. Nahezu jede Woche kommt die Stadträtin und Labour-Abgeordnete Pat Seaman und bietet eine Sozialberatung an.
Pat Seaman, Stadträtin:
»Das ist keine Schande hierherzukommen. Es leidet jeder momentan, nicht wahr?«
Mick, Rentner:
»Was mich hierher bringt, ist eigentlich ein bisschen Verzweiflung, weil ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Ich bin 74 Jahre alt und war Lkw-Fahrer. Im Dezember vergangenen Jahres habe ich meinen Job verloren. Mir fehlen jeden Monat etwa 200 bis 250 Pfund, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das schaffe ich nicht. Also muss ich Sozialhilfe beantragen.«
Eigentlich könne es nicht Pats Aufgabe sein, Menschen wie ihm, die ihr Leben lang gearbeitet haben, zu helfen, sagt Mick.
Mick, Rentner:
»Es gibt so viele Menschen da draußen, liebe Menschen, die in der gleichen Situation sind – und das sollten sie nicht sein. Ich denke, die Regierung sollte sich kümmern.«
2022 hat die britische Regierung mehrere Zahlungen an Einkommensschwache geleistet – insgesamt umgerechnet rund 750 Euro pro Haushalt. Weitere Hilfszahlungen sind geplant, und auch eine Energiepreisbremse gab es. Die britischen Tafeln verzeichneten nach jeder Zahlung zunächst einen Rückgang der Kunden. Doch jedes Mal stieg der Bedarf nach kürzester Zeit wieder.
Mary hat eine der staatlichen Hilfszahlungen erhalten. Ein Tropfen auf den heißen Stein, sagt sie. Sie macht sich Gedanken, wie lange es für sie und ihre Familie noch heißt: »durchhalten«.
Mary Obomese, NHS-Mitarbeitern:
»Wenn ich dem Premierminister eine Frage stellen könnte: Wie will er die Situation für arme Menschen verbessern? Gesundes Essen ist teuer, wie sollen es sich ärmere Menschen also leisten, Gesundes einzukaufen?«
Mary hat trotz hoher Lebensmittelpreise ihren eigenen Weg gefunden, gesund und effizient zu kochen – mit Rezepten aus ihrem Heimatland Ghana. Ihr Traum: kostengünstiges, aber gesundes Essen zu kochen, und an Menschen wie sie selbst zu liefern.
Mary Obomese, NHS-Mitarbeitern:
»Es ist gar nicht teuer, sehr günstig in der Herstellung. Du isst eins und schon bist du satt.«
Mit einer schlauen Idee gegen die Krise – das ist auch das Konzept von Fareshare. Den Staat ersetzen will die NGO aber nicht. Im Gegenteil: Fareshare fordert in einer Petition 200 Millionen Pfund von der Regierung.
Laura Spencer, Entwicklungsleiterin Fareshare Midlands:
»Wir können das nicht allein schaffen. Man sollte sich nicht auf uns verlassen, dass wir die Menschen ständig unterstützen. Wir brauchen die Unterstützung der Regierung und wir brauchen ihre Hilfe und ihre Investitionen, damit wir die Lebensmittel zu den Menschen bringen können, die sie wirklich brauchen.«
Bisher hat die Regierung auf die Petition nicht reagiert.
(10.06.2023)