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Proteste und Festnahmen in China. Im ganzen Land kommt es seit Tagen zu Demonstrationen. Der Auslöser: Ein Feuer in einem Wohnblock in Ürümqi in der nordwestchinesischen Region Xinjiang. Bei dem Brand waren am Donnerstagabend zehn Menschen in ihren Wohnungen ums Leben gekommen.
Das Hochhaus war seit Wochen abgeriegelt. Es stand wegen der strikten Coronaregeln der chinesischen Regierung unter striktem Lockdown. Rettungswege sollen den Menschen wegen der Maßnahmen versperrt worden sein.
Christoph Giesen, SPIEGEL-Korrespondent in Peking
»Und das ist eine Sache, die einfach in diesem Land gerade sehr, sehr viele bewegt, weil sie auch ja merken, dass es sie selbst treffen könnte. Diese Konsequenzen der sehr, sehr harten Maßnahmen. Was wir im Kern hier erleben, ist ein Protest, eine Abstimmung mit den Füßen gegen die Null-Covid-Politik der chinesischen Führung.«
In Shanghai, Peking, Wuhan und vielen weiteren Städten Chinas gehen die Menschen auf die Straßen. Demonstranten reißen Barrikaden nieder, die die Behörden zur Bekämpfung der Pandemie aufgestellt haben. Die Wut der Protestler richtet sich gegen die Null-Covid-Politik von Staatschef Xi Jinping und der Kommunistischen Partei.
Christoph Giesen, SPIEGEL-Korrespondent in Peking
»Um das Beispiel jetzt mal von Peking anzuführen: Das fing an mit einigen Wenigen, die sich getroffen haben, nachdem sie per WeChat ein Poster geteilt haben. Was darauf stand war: Wir treffen uns um 21:30 Uhr mit Kerzen, mit Papier und mit Blumen, an einem bestimmten Ort. Da waren dann Geo-Koordinaten angegeben und es war das Ufer eines Flusses im Pekinger Diplomatenviertel. Dann kommen da am Anfang tatsächlich nur einige wenige zusammen. Dann setzen zwei Phänomene ein: Das eine, was passiert ist, dass sich Videos und Fotos von dieser Veranstaltung natürlich verbreiten und verbreitet haben. Zum einen im chinesischen Internet, also über Dienste wie WeChat oder Weibo, aber natürlich dann auch in Städten wie Peking oder Shanghai, wo auch viele Chinesen leben, die im Ausland gelebt haben, die Zugriff auch auf andere Dienste haben, wie etwa Instagram oder Facebook oder Twitter. Dann wird das über diese Kanäle natürlich auch noch mal gepusht und da erfahren die davon.«
Viele Videos der Proteste und Treffpunkte waren auf chinesischen Plattformen schnell durch die Zensurbehörden gelöscht worden. Dennoch konnten sich einige Chinesen offenbar über die Demonstrationen informieren.
Christoph Giesen, SPIEGEL-Korrespondent in Peking
»Einige Videos haben es in diesen Tagen interessanterweise geschafft, doch zu überleben. Und der Grad, mit dem die Bevölkerung über das, was hier gerade passiert, Bescheid weiß, ist relativ hoch. Also ich habe das am Sonntag erlebt, dass dann Demonstranten auch zugejubelt wurden, aus Wohnungen, dass sie sie unterstützt haben. ›Macht weiter mit dem, was ihr da tut.‹ Dass Autos vorbeigefahren sind, dass Leute ihre Daumen aus dem Fenster gereckt haben, dass sie gehupt haben, dass sie ihnen zugejubelt haben.«
Festnahmen hat es auf den Demonstrationen zwar gegeben, dennoch scheint die chinesische Polizei bislang nicht allzu rigoros auf die Proteste zu reagieren – zumindest nicht unmittelbar.
Christoph Giesen, SPIEGEL-Korrespondent in Peking
»Was wir aber nicht vergessen dürfen ist, dass China eine Digital-Diktatur ist. Das heißt also, im Pekinger Diplomatenviertel, aber auch an vielen anderen Stellen in Peking, aber auch in Shanghai hängen sehr, sehr viele Kameras. In Shanghai redet man von drei, vier Millionen Kameras, die dort installiert worden sind. Das sind Größenordnungen, die können wir uns in Deutschland gar nicht vorstellen. Und viele dieser Kameras sind wiederum auch mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet. Das heißt also, es ist eine Leichtigkeit für den Polizeiapparat, das nachher auszuwerten und bei den Leuten dann an der Tür zu klingeln und zu sagen: Guck mal, hier haben wir den Beweis, dass du dies und jenes an diesem und jenem Tag gemacht hast. Wir können das einwandfrei rekonstruieren. Und diese Gesichtserkennungssoftware, die da zum Teil eingesetzt wird, ist so erschreckend gut, dass man auch die Leute, obwohl sie ja eine Maske tragen, zweifelsohne dann zuordnen und erkennen kann.«
Die chinesische Regierung hat die Polizeipräsenz in den Metropolen des Landes massiv hochgefahren. Können die Proteste am Machtapparat von Xi Jinping und der Kommunistischen Partei Chinas rütteln?
Christoph Giesen, SPIEGEL-Korrespondent in Peking
»Also ich glaube nicht, dass es die Partei und Xi Jinping irgendwie ernsthaft in Gefahr bringt. Davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt. Es ist ihnen aber merklich unangenehm, weil es in diesem Land und in diesem System bisher keinerlei Proteste in irgendwelcher Art und Weise seit sehr, sehr vielen Jahren gegeben hat, die irgendwie – und das ist das Wichtige – miteinander vernetzt waren.«
Wie lang die Proteste in China noch anhalten werden und ob sie sich ausweiten, bleibt abzuwarten. Sicher dürfte sein: Die chinesische Regierung wird ihre Null-Covid-Politik kaum ändern. Das Land steckt für chinesische Verhältnisse in seiner bislang schlimmsten Infektionswelle seit Pandemiebeginn. Die Behörden meldeten am Montag mit rund 40.000 Neuinfektionen einen neuen Höchststand.
(28.11.2022)
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