Seit Putins Mobilmachung sind Tausende Russen ins Ausland geflohen. Georgien hat besonders viele aufgenommen – und profitiert davon wirtschaftlich. Doch die Bürger zeigen sich besorgt.
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Tiflis, die Hauptstadt Georgiens – und einer der wichtigsten Zufluchtsorte russischer Männer, die sich einem Kriegseinsatz in der Ukraine entziehen wollen. Mehr als 112.000 Russen sind in diesem Jahr bereits eingereist, sagen die georgischen Grenzbehörden – zwei Drittel davon, nachdem Putin eine Mobilmachung angekündigt hatte. Für Russland ein Braindrain – für Georgien ein Geschenk.
Vakhtang Butskhrikidze, Geschäftsführer TBC Bank
»Diese Migranten sind sehr hilfreich. Viele sind jung und technisch ausgebildet. Sie haben Know-how. Für uns und andere georgische Unternehmen ist das sehr nützlich.«
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine sahen Experten die Wirtschaft Georgiens vor dem Abgrund.
Davit Keshelava, International School of Economics Tiflis
»Wir dachten, die russische Migration würde sich negativ auswirken. Denn die Wirtschaft Georgiens hängt sehr von seinen Nachbarn ab – auch von der Ukraine und Russland. Aber der Effekt ist ein anderer – ein positiver.«
Das Wirtschaftswachstum Georgiens wird für das laufende Jahr auf 10 Prozent geschätzt – angesichts weltweiter wirtschaftlicher Turbulenzen ein Traumwert.
Doch die Migration hat auch Tücken: Die meist gut ausgebildeten und solventen Russen verdrängen Georgier vom Arbeitsmarkt und aus den Städten. Der Wohnungsmarkt in Tiflis etwa ist außer Kontrolle: Allein seit Juli sind die Preise im Schnitt um rund 40 Prozent gestiegen. Dagegen hegte sich schon Anfang Oktober Protest.
Lana Ghvinjilia, Demonstrantin
»Selbst, wenn all diese Russen gegen Putin und seine Politik sein sollten, ist das für uns immer noch ein Problem. Wir versuchen seit 30 Jahren, uns von dieser russischen Kultur zu befreien.«
Die Beziehungen zwischen Russland und Georgien könnten besser sein: 2008 fielen russische Streitkräfte in Georgien ein und kamen der Hauptstadt Tiflis bis auf 40 Kilometer nahe. Noch heute sind Abchasien und Südossetien abtrünnig. Obwohl völkerrechtlich Teil Georgiens haben sich die Regionen für unabhängig erklärt. Russland erkennt diese Unabhängigkeit an und hat dort eigene Soldaten stationiert.
Tsotne Japaridze, Demonstrant
»Wir haben eine Invasion dieser sogenannten russischen ›Flüchtlinge‹. Es ist ein wenig komisch, dass sie hier im Land gleichzeitig Besatzer und Flüchtlinge sind. Ich verstehe das nicht. Diese Menschen können wie eine Tretmine für uns sein – eine Bombe, die jederzeit von Putin genutzt werden könnte, etwa für Provokationen oder um zu destabilisieren.«
Und so hat auch der überraschende Wirtschaftsboom für viele Georgier einen bitteren Beigeschmack.
(07.11.2022)
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