Multimillionär Rishi Sunak oder die karrierebewusste Liz Truss? Wer hat die besseren Chancen, Boris Johnson zu beerben – und wofür stehen sie eigentlich? Einschätzungen des Londoner SPIEGEL-Korrespondenten Jörg Schindler. Ein Video von Jörg Schindler, Martin Jäschke und Alexander Schmitt (Video)
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Boris Johnson, Premierminister Großbritannien
»Mr. Speaker, ich möchte allen hier danken. Und: Hasta la vista, baby. Danke.«
Boris Johnson tritt ab – bald jedenfalls. Vor gut zwei Wochen hatten sich bereits die Reihen der britischen Regierungsmitglieder schier im Minutentakt gelichtet.
Und er machte den Anfang: Rishi Sunak. Seit dem 13. Februar 2020 Finanzminister, zurückgetreten am 01. Juli dieses Jahres – aus Protest gegen Johnsons Regierungsstil. Sie ist immer noch dabei: Außenministerin Liz Truss. Jetzt reisen beide durch das britische Königreich im Kampf um die Nachfolge Johnsons als Parteichef – und als Premierminister.
Dabei haben beide ziemlich unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie das Land in Zukunft regieren wollen.
Rishi Sunak, Ex-Finanzminister Großbritannien
»Ich würde gerne hier stehen und sagen: Ich senke diese und jene Steuern und alles wird gut. Aber weißt du was? Das wird es nicht. Es gibt Dinge, die sind teuer: eine höhere Inflation, teurere Hypotheken, angefressene Ersparnisse. Und weißt du was? Diese ›Etwas-für-nichts-Ökonomie‹ ist nicht konservativ. Das ist Sozialismus.«
Liz Truss, Außenministerin Großbritannien
»Mit deinen Plänen gehen wir in die Rezession. Weil du die Steuern erhöht hast, gibt es kein Wachstum – Unternehmen wollen nicht investieren. Es zieht den Leuten das Geld aus der Tasche. Ein großer Plan für Wachstum? Warum haben wir das in den letzten zweieinhalb Jahren als Finanzminister nicht gesehen?«
Steuersenkungen, weniger Staat. Liz Truss übt sich in der Nachfolge von Margaret Thatcher – der eisernen Lady Großbritanniens. Dabei war die Agenda von Truss in der Vergangenheit weniger eisern.
Jörg Schindler, DER SPIEGEL
»Liz Truss hat sich irgendwie als ziemlich flexibel in ihrer ganzen Karriere schon gezeigt. Sie war ja die jüngste Frau im britischen Kabinett überhaupt, ist seit 2012 in ganz unterschiedlichen Ministerämter unter drei verschiedenen Ministerpräsidenten aufgetaucht, die komplett unterschiedlich sind. Sie hat es irgendwie immer geschafft, oben zu bleiben. Das spricht für eine sehr, sehr große politische Flexibilität, um es mal sehr vorsichtig auszudrücken. Was bei ihr auch der Fall ist, ist, dass sie eben eine ausgesprochen karrierebewusste Frau ist und ihre Entscheidungen sehr stark danach ausrichtet: Was bringt mich eher nach oben und was zieht mich eher nach unten? Und da einfach der Brexit dann eben spätestens 2019 mit der Übernahme von Johnson endgültig beschlossene Sache war, war das durchaus opportun, sich da als große Brexit-Vorkämpferin so auszuzeichnen. Das sieht man ja jetzt auch: Der Dank der Parteirechten ist ihr sicher.«
Truss macht sich Freunde bei vielen Tory-Mitgliedern, die allgemein eher weiß, alt und wohlhabend sind. Sunak hingegen ist in der konservativen Fraktion im Unterhaus beliebt, weil er nach den Eskapaden Boris Johnsons für einen Neustart steht. Er gilt außerdem als moderat, hat ein EU-freundliches Image, obwohl er für den Brexit gestimmt hat – und machte während seiner Amtszeit als Finanzminister eine selbstbewusste Wandlung durch.
Reporter
»Guten Abend, Herr Schatzkanzler! Wie ist es, unter diesen Umständen zu übernehmen?«
Rishi Sunak, Ex-Finanzminister Großbritannien
»[Ich bin] erfreut, ernannt worden zu sein. Es gibt viel zu tun. Vielen Dank.«
Reporter
»Werden Sie des Premierministers Marionette?«
Jörg Schindler, DER SPIEGEL
»Und er hat tatsächlich auch eine ganze Weile keinerlei Anstalten gezeigt, irgendwie so was wie ein eigenes Profil zu entwickeln. Aber, und das ist ganz interessant, so in den letzten zwölf Monaten vor allen Dingen, also vor allen Dingen seit letztem Sommer, hat er zunehmend sein eigenes, sein eigenes Ding gemacht und hat auch Johnson widersprochen, eben vor allen Dingen eben im Zusammenhang mit Steuererhöhungen. Also Johnson wollte ja immer irgendwie ausgeben, jedem Gefallen sein, Fantastilliarden, überall hin pumpen, jedem alles versprochen. Und Sunak hat dann irgendwann mal gesagt: So, jetzt ist Schluss! Und hat die höchsten Steuererhöhungen seit Jahrzehnten durchgesetzt. Das ist schon erstaunlich. Da ging dann diese Absetzbewegung los, die dann letztlich auch zu seinem Rücktritt und damit zu Johnsons Sturz geführt hat.«
Gerne gibt er sich bürgernah – steht in einem Aspekt aber vielen Britinnen und Briten ziemlich fern.
Jörg Schindler, DER SPIEGEL
»Was an Sunak natürlich auch interessant ist, er ist mit Abstand der reichste Abgeordnete, nicht nur des jetzigen Parlaments, sondern mutmaßlich aller Parlamente, die es in Großbritannien je gegeben hat. Er ist ehemaliger Hedgefondsmanager, war bei Goldman Sachs und ist Multimillionär. Das ist natürlich aber auch eine der seiner größten Achillesfersen, die er jetzt in diesen sechs, nächsten sechs Wochen haben wird, weil er natürlich total von der Gegenseite attackiert werden wird als abgehobener Schnösel, der überhaupt nicht weiß, wie es dem normalen Menschen geht.«
In den nächsten fünf Wochen werden beide Bewerber in Town Hall Meetings den Parteimitgliedern Rede und Antwort stehen. Die geheime Briefwahl beginnt im August. Ein Gewinner soll Anfang September verkündet werden.
Jörg Schindler, DER SPIEGEL
»Ganz ehrlich, ich glaube Sunak ist der Klügere von beiden. Also ist intellektuell eher dazu in der Lage das Land zu führen. Ich glaube auch, dass er grundsätzlich eher prinzipienfester ist als Truss. Bei Truss, da kann man wirklich bis in die Jugendgeschichte zurückgehen. Die hat eine derartige Pingpong- oder Flipper-Karriere hinter sich, dass man definitiv nicht wirklich sagen kann, für was die steht. Und das finde ich ganz grundsätzlich ein Problem in Politik, wenn man sozusagen sein Fähnchen im Wind hängt. Ich glaube, also Sunak ist auch nicht frei von Opportunismus, aber Truss schlägt ihn da glaube ich um Längen.«
Über die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson entscheidet keine Parlamentswahl. Die etwa 160.000 Mitglieder der britischen Tories allein wählen nicht nur den neuen Parteichef sondern damit auch den neuen britischen Regierungschef. Das bedeutet aber auch, dass nur gut ein Viertel Prozent der britischen Bevölkerung bestimmt, wer das Land künftig regiert.
(25.07.2022)
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