
Unter diesem Schild kommen täglich zwischen 80 und 200 Menschen in die Notaufnahme des Klinikums Stuttgart herein. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Johannes Heymer ist 36 Jahre alt und arbeitet in der Interdisziplinären Notaufnahme des Klinikums Stuttgart. Ein Tag bei der Arbeit ist für den Oberarzt nicht vorhersehbar – die Menschen, die herkommen, kommen ungeplant.
Stuttgart - Eine rote Markierung auf dem Fußboden sagt „Diskretion“, sie will Abstand schaffen. Über der Türschwelle sticht ein rotes Schild mit der Aufschrift „Notaufnahme“ ins Auge. Darunter ist eine blickdicht verklebte Tür. Hinter der Tür riecht es nach Desinfektionsmittel, nach Krankenhaus, auch durch die Maske hindurch. Das Piepen der Herzmonitore legt sich als Klangbasis unter die Stimmen der Ärzte, Pflegekräfte und Patienten. Telefone klingeln, Menschen gehen zügig, aber bestimmt umher. Sanitäter warten mit ihren Patienten am Beginn des Flurs. Vor ihnen hängt ein großer Bildschirm mit den belegten und den freien Betten. Dahinter ist in der Mitte des Flurs eine Insel aus Tresen und Hockern. Dort stehen Pflegekräfte und Ärzte. Sie tippen in die Tasten der Computer, starren auf die Bildschirme. Links von ihnen sind Kabinen, mit Liegen und Vorhängen. Rechts reihen sich die Patientenzimmer auf.
„Bei uns wird kein Patient weggeschickt“
„Dann erzählen Sie mal. Was ist denn los?“, fragt Johannes Heymer. Der 36-Jährige ist Oberarzt in der Notaufnahme des Klinikums Stuttgart. Ein Mann mit einem Insektenstich sitzt ihm gegenüber. Er wirkt etwas verunsichert. Schon vor zwei Tagen hat ihn ein kleines Tier am Knöchel gestochen. Jetzt ist die Stelle angeschwollen. „Sind Sie gegen Tetanus geimpft?“, fragt Heymer. Der junge Mann weiß es nicht so genau. Heymer schickt den Mann zum Hausarzt, er soll dort seinen Impfstatus abklären. Außerdem verschreibt er ihm ein Antibiotikum. Der rosafarbene Rezeptschein rattert durch den Drucker des Computers. Der junge Mann verlässt die Notaufnahme wieder.
„Bei uns wird kein Patient weggeschickt“, sagt Heymer. Auf einem der Bildschirme an der Flurinsel ploppt eine Ankündigung auf: „Zwangseinweisung, 84 Jahre alt, männlich“. Ein kurzer Gang in den Aufenthaltsraum, ein Schluck Wasser, zurück an die Insel. Die Tür der Notaufnahme geht auf. Plötzlich stehen viele Menschen um eine Liege, reihen sich an die Sanitäter und hören dem Notarzt zu: „Der Patient ist gestern Abend gestürzt, konnte nicht mehr aufstehen. Er sagt nur ‚Nein‘, sonst nichts. Erst wollte er gar nicht mitkommen. Rechtsseitige Parese, Vermutung auf Hirnblutung.“
Von lebensbedrohlich zu Mikrofon-Gemurmel
Die Liege mit dem Mann wird in den Akutraum geschoben. Eine Pflegerin zieht ihm sein Hemd aus und drückt die Kabel des Herzmonitors auf seine Brust. Eine Assistenzärztin hebt wechselnd Arme und Beine des Mannes an. „Locker lassen, relax“, sagt sie. Er versteht es nicht. Es sieht so aus, als ob er nicht weiß, was mit ihm passiert. Die Pflegerin fährt mit einem Wattestäbchen tief in Mund und Nase des Mannes. Er würgt, hustet. Der Corona-Test ist für den Mann sichtlich unangenehm. Die Pieptöne zweier Herzmonitore synchronisieren sich. „Ich habe gerade angerufen. Wir gehen jetzt in die CT vom Schockraum“, sagt Heymer. Ein ganzer Zug von weißen und hellgrünen Hemden setzt sich zusammen mit der Liege in Bewegung. Der Mann wird auf die Liege des Computertomografen umgebettet.
„Ja, Hirnblutung, genau hier“, sagt Heymer bei einem kurzen Blick auf den Bildschirm. Es ist dringend. Die Situation ist lebensbedrohlich, wenn die Hirnblutung jetzt nicht behandelt wird. Der Mann wird wieder auf die Liege geschoben. „Wir gehen auf Zimmer 11“, sagt eine Pflegerin. Der Mann hat inzwischen ein Medikament bekommen. „Wir arbeiten hier interdisziplinär zusammen“, sagt Heymer über die Notaufnahme. Das sei im Vergleich zu anderen Krankenhäusern durchaus eine Besonderheit am Klinikum Stuttgart. „Patienten werden von Chirurgen und Internisten bei Bedarf gemeinsam versorgt, und auch die Zusammenarbeit mit den Pflegekräften ist sehr eng.“ Heymer sitzt wieder auf einem Hocker vor einem Computer an der Insel. Leise murmelt er in das Mikrofon des Computers. Die Worte ploppen auf dem Bildschirm auf.
Der Arzt erinnert sich nicht an jeden Patienten
Es geht in Kabine 2. Vorhang auf, Vorhang zu. Ein Mann, vielleicht Mitte 30, gestikuliert wild umher, wirkt aufgebracht. Die Worte Heymers nehmen die Spannung aus der Situation. Der Mediziner spricht schnell und bestimmt. Wenn er etwas sagt, dann vermittelt das Sicherheit. „Koks hab’ ich erste Mal gemacht, weißt? Der Druck, ich hab’ so Druck, wenn ich die Augen zumache“, sagt der Mann. 47-mal war der Patient schon in der Notaufnahme. Jedes Mal wegen Drogen.
Mit schnellen Schritten geht er in den Wartebereich vor der Notaufnahme. Der Sohn des 84-Jährigen ist da. Gemeinsam geht es in das Zimmer 11. Der Mann kann mittlerweile wieder sprechen. Mühsam, aber er bekommt einige Worte heraus. „Maske, unangenehm“, sagt er. „Ihr Vater hat eine Hirnblutung. Er wird jetzt auf die Stroke-Unit verlegt“, sagt Heymer.
„Ein Krankenhaus ist eine eigene Welt“
„Ein Krankenhaus ist eine eigene Welt, mit einem Team, einer Familie. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Ich würde nichts anderes machen wollen“, sagt Heymer über seine Arbeit. Aber er hat kaum Zeit, darüber zu sprechen. Ein Bauarbeiter mit einer Schnittwunde steht in der Notaufnahme. Er wird auf die Liege in einer der Kabinen gelegt. Handschuhe an, Haube auf, Mullbinde mit Flüssigkeit bespritzen, abtupfen. Heymer reinigt die Wunde des Bauarbeiters. „Einfach still liegen bleiben“, sagt Heymer, als der Mann seinen Kopf hebt. „Jetzt pikst es, nicht erschrecken.“ Der Patient murmelt Unverständliches. „Mhm, joa, gibt Schlimmeres“, sagt Heymer, während er die Wunde des Patienten mit drei Stichen zunäht.
Den Oberarzt bringt so schnell nichts aus der Ruhe
„Kommst du in die 2?“, fragt eine Pflegerin Heymer, „der dreht ein bisschen durch.“ Der Arzt hat den Bauarbeiter versorgt, zieht Handschuhe und Haube aus, desinfiziert seine Hände. „Meine Freundin, da ist Krieg“, sagt der Mann aus Kabine 2. Es ist der Mann, der bereits 47-mal hier war. Der Boden der Kabine ist mit Blutstropfen übersät. Der Mann drückt sich einen Tupfer auf die Einstichstellen seines Arms. Er will die Notaufnahme verlassen, gegen ärztlichen Rat. „Ich würde Sie hierbehalten, zur Beobachtung“, sagt Heymer. „Ich kann nicht. Ich muss zu meiner Freundin“, sagt der Mann. Er muss eine Risikoerklärung unterschreiben, dass er sich der Gefahren seiner Entlassung bewusst ist. „Einmal hier unterschreiben. Dann noch mal hier. Und dann noch mal hier“, sagt Heymer.
Nach vier Stunden ist die Stimme Heymers noch immer ruhig und bestimmt, nicht genervt oder gestresst. Für ihn ist es ein ruhiger Montagvormittag.
(12.11.2020)
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