Bemerkungen zu einem polizeilichen Wiener Verbot
In der Auslage eines Altwarenhändlers im französischen Flandern, in Lille, habe ich ein Verbotsschild aus alter Zeit gesehen: „Il est interdit de parler flamand et d’uriner sur les murs, ACADEMIE DE LILLE, ca. 1853“ stand darunter. „Flämisch sprechen und an die Mauer urinieren ist verboten.“ Das Infame an dem Verbot, ausgesprochen von der Schulverwaltung, ist natürlich nicht nur, eine Sprache mundtot machen zu wollen, sondern das Verbot mit einer als niedrig empfundenen, unbürgerlichen (weil öffentlich vollzogenen) Tätigkeit sprachlich zu kombinieren – und damit zu suggerieren: Wer flämisch spricht, pinkelt auch gegen Schulmauern und ist also persona non grata.
In Wien sah ich Folgendes, ganz harmlos daherkommende: „Es ist polizeilich verboten, bei geöffnetem Fenster zu unterrichten.“ – Harmlos, dennoch ein Schlag in die Magengrube und deprimierend: Die Polizei hatte also die Macht, Wort- oder Klangfetzen, die ins Freie dringen würden, außerhalb der vier Wände, in die sie behördlicherseits eingesperrt waren, gewissermaßen abzuführen. Besser: dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst entwischten. Fast jedes Wort des Verbots war noch extra unterstrichen. Der Satz stand in großen Lettern auf einem Aushang am Fenster eines der Proberäume des „Konservatoriums für Musik und dramatische Kunst m. Öffentlichkeitsrecht, Mühlgasse 28-30, 1040 Wien“. Das verlautbarte der runde Stempel des Konservatoriums mit der Lyra im Zentrum, der die Dringlichkeit des polizeilichen Verbots betonte.
Wer hier studierte oder unterrichtete, wird das Verbot oft gelesen haben. Vielleicht hat er oder sie sich gefragt, wie es angehen kann, dass eine Stadt, die nichts dagegen einzuwenden hat, Welthauptstadt der Musik genannt zu werden, sich so einen Satz leistet? Welche Geistesverfassung der Schreiber haben muss, der doch in in solch einer altehrwürdigen Institution tätig ist? Wem das Verbot nicht mehr aus dem Kopf geht, der fragt sich, ob denn abseits des millionenschweren Etats, den die Stadt ausgibt, um sich feiern zu lassen, in Wirklichkeit noch weitere Sätze in der Stadt (mit unsichtbaren Folgen in den Köpfen der Städter) ausgehängt sind oder kursieren. Sätze, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn man dazu bestimmt ist, sie ernst zu nehmen, all die harmlosen Verbote. Was passiert, denkt der Student, die Lehrerin, wenn ich mir erlauben würde, doch bei geöffnetem Fenster zu unterrichten, zu üben?
Würde der Schreiber und Aufhänger des Satzes sich die Mühe machen, die Polizei zu rufen oder auf die Polizei zu verweisen oder erst einmal nur auf den Aushang? Hat es schon ähnliche Fälle gegeben, die dem Schreiber und Aufhänger jedes Mal das Geimpfte aufgehen ließen, wenn schon wieder einmal bei geöffnetem Fenster unterrichtet wurde? Oder befiel ihn oder sie eine klammheimliche Genugtuung, sobald dies geschah und er oder sie nun endlich tätig werden konnte? Quasi polizeilich, jedenfalls wichtig. In den Hof hineinlauschen, die Schallwellen des Unterrichtenden dort unzulässigerweise hören, sich nähern im Vorgefühl einer wirksamen pädagogischen Ermahnung, eines erfrischenden autoritären Intermezzos zwischen Allegro und Adagio vielleicht?
Oder stehen im Nachbarhaus des Konservatoriums bereits Ohren offen, die ihrerseits darauf warten, dass sich das Fenster öffnet und der Schall des Unterrichtens - Töne, Worte - nach außen dringt, worauf das polizeiliche Verbot Anwendung finden und Amtshandlungen die Folge sein müssen? Greifen die Besitzer dieser Ohren dann zum Telefon, um das Konservatorium anzurufen oder gleich die nächste Polizeiwache? Sind sie, die doch nur ihre Ruhe wollen, ihrerseits erbittert darüber, dass dieses polizeiliche Verbot schon wieder nicht eingehalten wurde und sie wieder aktiv werden müssen, sich zuständig fühlen, ja, auf die Einhaltung des Rechts, des Rechtstaates pochen müssen?
Wer da nun unterrichtete bei offenem Fenster – das Verbot einfach missachtend - , wird nun wie gelähmt den Geigenbogen und den Mut sinken lassen, sich ermahnen, sich ducken lassen, argwöhnen, die Musik sei in der Stadt nur als Neujahrskonzert erwünscht, gefeiert, ersehnt. Und auch dort, wenn man es genau nimmt, letztlich bei geschlossenen Fenstern des Musikvereins.
Es ist verboten im Park Fahrrad zu fahren. Das Schild ist groß und rund, wenn auch schon leicht verbogen. Als Eingang zum Park fungiert eine großzügige schön geschwungene Freitreppe. Doch sie ist seit jeher gesperrt. Seit jeher werden alle, die den Park betreten oder verlassen, mittels eines schäbigen Metallzauns umgelenkt und gezwungen, eine unansehnliche Rampe zu betreten. Eine Wiener Zwischenlösung als ästhetische Zumutung. Der Park ist groß, und der Krieg rückt gleich wieder ins Jetzt, in die Friedenszeit angesichts der Flaktürme zwischen den Alleen. Viele Wege sind asphaltiert, die Mitarbeiter der rasen-, weg- und baumverwaltenden Bundesgärten, die Laubbläser, Kettensägenbediener von der Richtigkeit ihres Tuns natürlich überzeugt, genau wie die Aststutzer, Häckselspezialisten und Sicherheitsdienstler, die den Park allabendlich zu wechselnden Uhrzeiten verschließen vor dem Volk. Alle haben ihre Gründe, hier in ihren Transportern umherzufahren, bloß eben nicht mit dem Fahrrad. Darf hier musiziert, unterrichtet werden?, fragt sich der Student aus der Mühlgasse vielleicht.
Geworben wird für das Fahrrad ja überall in der Stadt, es wird leuchtende Propaganda gemacht mit der je aktuellen Zahl der „Radfahrenden“. Sie bekommen nicht nur eine Luftpumpe zur unentgeltlichen Benutzung, sie bekommen Stellplätze, sie sind mittlerweile akzeptiert, wenn sie nicht aus der Spur kommen, aus der Reihe tanzen, eben im Park fahren, den die Immobilienentwickler gern in den höchsten Tönen loben, weil er die Aussicht zu höchsten Mieten und Renditen ermöglicht, gerade wenn die Wohnung Aussicht auf den Park hat oder wenigstens eine Nähe zu diesem.
Das Betreten der Baustellen, der vielen vielen Baustellen der Stadt, ist verboten. Sich zu nähern den Fundamenten, die in den Boden gerammt werden. Tagelang, nächtelang bebt die Erde von einer Unzahl dumpfer erderschütternder, markerschütternder Stöße. Erschüttert wird der Mensch, die Tiere, die Pflanzen, die Luft. Die Erkenntnis gerät aus den Fugen, in welchem Gegensatz doch der Aufwand der Mittel zum Ergebnis steht: noch eine Tiefgarage. Kräne drehen sich über Betonwüsten. Über immer neuen LKW, die Beton anliefern. Lärm ist autoritär. Wer Lärm macht, hat recht. Die Baustellen, zuverlässige Lärmquellen auch während der ganzen Coronazeit, verkünden optisch und akustisch Macht, Wachstum, Investitionen, Geldverschleiß, Materialschlachten, die Schlacht um die süßesten, verlogensten Vokabeln, um die frisch aus dem Boden gestampften Büros und Apartments schließlich zu verkaufen oder zu vermieten. Bitte musiziert hier, solange die Baustelle nicht fertig ist. Hier bei diesem Hochhaus, oder bei jenem. Bald kommen die computeranimierten Ausblicke auf die schöne neue Wohnwelt mit ewiggleichen spielenden Kindern, glücklichen Paaren, praktischen Bäumen vor styroporgedämmter Einheitsfassade. Sie locken die Käufer, die Mieter an, und nach dem Einzug heißt es wieder: Fenster zu beim Musizieren! Alexander Musik