Alexander Moritz

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Radio-Beitrag

Stadtteilexpedition in Leipzig: Unterwegs im Plattenbauviertel

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Der Dresdner Zwinger oder die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar - Stadtführungen zeigen einem meistens die bekanntesten Orte in Mitteldeutschland. In Leipzig kann man sich stattdessen auf "Expedition" begeben – abseits des Zentrums in die eher unbekannten Stadtviertel. Die Künstlerlinnen Antje Rademacker und Diana Wesser recherchieren für jede ihrer "Stadtteilexpedition" interessante Orte, Ereignisse und Personen. Unser Reporter Alexander Moritz war bei einem Rundgang durch das Leipziger Plattenbauviertel Grünau dabei – und hat das Stadtviertel entdeckt, ganz abseits der gängigen Klischees.

OT "Alles was hier blau ist, das sind Stationen, wo es Personen gibt, mit denen Sie ins Gespräch kommen können. Die hier leben, die hier arbeiten. Die Fragen beantworten über Grünau oder ihre Tätigkeit, ihren Garten, die Kirche, über alles Mögliche."

Mit einem selbstgedruckten Stadtplan in der Hand steht Antje Rademaker vor den heutigen Expeditionsteilnehmern: Drei alteingesessene Grünauerinnen im Rentenalter, ein Ehepaar um die 50 und ein paar jüngere Leute sind an diesem sonnigen Samstag gekommen.
Zwei Wochen haben Antje Rademaker und die Künsterlin Diana Wesser die heutige Expedition vorbereitet – gemeinsam mit den Menschen hier im Viertel.

OT "Wir machen Picknicks oder setzen uns einfach draußen auf ne Wiese oder an den Spielplatz und bieten halt Kaffee und Kuchen an und versuchen mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Und markieren dann halt Orte, die uns genannt werden als speziell. Und bieten quasi an für die Bewohner auch, dass sie sich einbringen und dass sie sozusagen in die Hand nehmen, was über ihr Viertel gesagt wird."

Die Expedition selbst hat keinen vorgegebenen Verlauf. Jeder kann seinen eigenen Weg finden – durch das Grünauer Labyrinth aus Fernwärmeleitungen und Plattenbauten.

OT "Aufgabe G war das: Gebrauchsanweisung G – Beobachtung. Schau dir die Balkone genau an, such dir einen aus und achte auf alle Details. Mache eine Zeichnung in dein Expeditionsheft. Das ist an der Kotsche, da kommen wir ja hier vorbei ne."

Expeditionsteilnehmer Erik Melker steht vor einem ziegelrot gestrichenen Wohnblock, den Faltplan in der Hand. Seit Kurzem lebt er selbst in Grünau – und nutzt die Stadtteilexpedition, um das Viertel zu entdecken.

OT "Es sind sehr viele ältere Menschen, ist mir aufgefallen. Und sehr viele Flüchtlinge, also Menschen die offenkundig jetzt erstmal nicht hier beheimatet wirken. Das ist schon ne sehr bunte Stadt so in der Stadt. Als ich gelesen hab, dass Grünau früher für 100.000 Leute ausgelegt worden ist und jetzt hier noch 40.000 wohnen – das fand ich auch ganz spannend."

Leipzig-Grünau: Das sind immergleiche Fassaden, monotone Fensterfronten, Waschbeton. Ein fast heimeliger Anblick, findet Expeditionsteilnehmer Florian Quitzsch.

OT "Ich bin in Halle-Neustadt aufgewachsen, quasi die ersten 19 Jahre meines Lebens. Von daher kommt mir da nicht völlig unvertraut vor. Aber das ist ja eine besondere Sache, die nicht jeden Tag angeboten wird. Von demher sollte man das auch wahrnehmen."

Unser Weg führt vorbei an einer verlassenen Schule zur Ratzelwiese. An einer Parkbank Treffen die beiden Männer auf den 49-jährige Majid. Er ist Palästinenser, lebte als Flüchtling in Syrien. Seit einem Jahr ist er in einem Grünauer Plattenbau.

OT Majid "Ich bin Ingenieur, elektrische Ingenieur. Es ist schwer für mich. Ich wohne mit 6 Personen in eine Zimmer, hier in Grünau."

Eine ganze Weile stehen die drei unter dem rauschenden Blättern einer Linde und reden. Wenn nötig, übersetzt Katja Janßen von der Integrationsstelle im Stadtteil.

OT "Ähm Majid, hast du viel Kontakt mit den Leuten hier in Grünau? Also auch mit Deutschen? Wie ist das? / (Antwort auf Arabisch.) / Nein, er meint, er hat eigentlich gar keinen Kontakt. / Mhm, ja das ist schade ja".

Zu viele Migranten, Armut und Tristesse – es gibt viele Klischees über Plattenbauviertel wie Grünau. Aber die Expedition zeigt auch eine andere Seite des Viertels. Zum Beispiel das kleine Häuschen mit dem verwunschenen Garten von Raina Demele.

OT „Hier hinten stand die sogenannte Eiger-Nordwand. Ein Elfgeschosser, ein riesenlanger Zick-Zack-Bau. Wurde Eiger-Nordwand genannt. Irgendwann sagte mein Mann: mein Gott, wenn sie das mal abreißen würden. Und keine vier Wochen später stand in der Zeitung: das wird abgerissen. Und weil nun inzwischen die Bäume einfach größer geworden sind, ist nun auch viel, viel grün geworden. Das alles hat dann auch dazu beigetragen, dass man sich hier viel wohler fühlt.“

Zum Ende der Expedition treffen sich die Teilnehmer wieder am Ausgangspunkt. Bei einer Tasse Kaffee werden die Erlebnisse besprochen und Fundstücke zusammengetragen. Eine gute Erfahrung, sagt der 39-Jährige Jan Schaffrath.

OT "Finde ich schön, wenn der Versuch gemacht wird, dieses Nebeneinander ein bisschen aufzubrechen. Wäre schön, wenn es generell in der Gesellschaft mehr Orte geben würde, wo man wieder mehr zusammenkommt. Kulturell, sozial, politisch wäre das eigentlich wünschenswert, find ich."

Anwohner und Außenstehende zusammenbringen – das wollen Antje Rademaker und Diana Wesser noch in vielen weiteren Stadtteilen von Leipzig.

Veröffentlicht bei MDR Kultur am 30.09.2017.