Vietnams Kapitale befeuert Augen, Ohren, Geist und Gaumen, bringt auf engem Raum mehr als 1000 Jahre Geschichte unter, rund 6,5 Millionen Menschen plus deren Ahnen, dazu Mopedschwärme. Und das Glück? Das wird recycelt.
Im selben Moment, in dem sich die Gäste von ihren Hockern erheben, steigt die Tochter der Köchin auf den Tisch, um die Ahnen zu versorgen. Die neonbeleuchtete Suppenküche in der Altstadt ist so klein, dass auf dem Boden einfach kein Platz mehr für den Familienaltar ist, auch wenn der kaum größer ist als ein Schuhkarton. Jetzt hängt er eben an der Wand, genau überm Ecktisch.
Wahrscheinlich hat das Mädchen die ganze Zeit darauf gewartet, dass die Männer in der Ecke aufhören, auf ihren Zahnstochern mit Zimtgeschmack herumzukauen, und endlich gehen. Jedenfalls hat man es ihr nicht angemerkt, sie hat ohne Pause abkassiert und heiße Nudelsuppenschüsseln auf die flachen Tische verteilt. Sie hat die Schwüle des Hanoier Sommers ignoriert. Und hin- und herschwenkende Ventilatoren zerzausten ihre Haare.
Nun ist das Mädchen auf Augenhöhe mit der Ahnentafel, vor der ein Teller voller Mangos steht. Den reicht sie ihrer Schwester hinunter und stellt dafür einen dampfenden weißen Kloß zwischen die Kerzen, dann noch einen Becher klaren Reisschnaps. Als sie wieder auf dem Boden steht, winkt sie die nächsten Gäste heran, die schon draußen unter der Markise warten.
Hanoi ist eng. So eng, dass jeder Ort mehrere Bestimmungen
hat: Ein Ecktisch ist eine Stufe in Richtung Jenseits, ein Tempel
eine Mopedgarage, ein Jeansladen ein Schlafzimmer. Die Stadt, die
2010 tausend Jahre alt wurde, ist wie ein doppelt belichtetes Foto,
auf dem sich die Dinge überlagern: das Alte und das Neue, das Transzendente und das Profane.
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