In Berlin-Kreuzberg schließt ein Aldi – und Anwohner protestieren. Sie fürchten: Erst wird der Laden verdrängt, dann seine Kunden. Wie ein Discounter zum Symbol wurde.
Ein Nachmittag in Berlin-Kreuzberg, es geht auf halb drei zu, da beugt sich eine Kundin beim Aldi in der Markthalle derart weit in die Tiefkühltruhe hinab, dass ihr die Kapuze ihres Parkas auf den Kopf rutscht. Als sie wieder auftaucht, hält sie tiefgefrorene Barbecue-Chicken-Wings in den Händen. Klonk, die Tüte landet im Einkaufswagen. 2,99 Euro.
Einen Gang weiter schiebt eine alte Frau mit Kopftuch leere Wasserflasche in den Schlund des Pfandautomaten. Sie hat viele Flaschen dabei und man könnte auf die Idee kommen, dieser vergilbte Automat höre erst dann auf, zu surren, wenn Deutschland den Einwegpfand wieder abschafft. Aber so ist es nicht. Nach mehr als 40 Jahren ist Schluss. Aldi muss raus aus der Markthalle, die Betreiber haben den Mietvertrag gekündigt.
Gegen die Kündigung hat sich Widerstand formiert im östlichen Teil Kreuzbergs, nach der alten Postleitzahl auch Kreuzberg 36 genannt. Manche Anwohner wollen ihren Aldi retten, einen von zwei Discountern in der näheren Umgebung. Es sind nicht alle Anwohner, aber auch nicht wenige. Sie haben sich zusammengefunden, Flyer in den umliegenden Cafés und Spätis ausgelegt, Bezirkspolitiker kontaktiert. Den Protestierenden sind die Händler in der Markthalle zu teuer, andere kritisieren, dass viele Stände nur an einigen Wochentagen besetzt sind. Rund 300 Menschen demonstrierten Ende März vor dem Eingang zur Markthalle. Sie hielten Schilder hoch, "Omi braucht Aldi!" stand auf einem, "Kreuzberg 36 wehrt sich!" auf einem anderen. Irgendwann rief der Organisator der Demo ins Mikrofon, man solle sich doch mal bei den Kassiererinnen bedanken, für ihre gute Arbeit. Klatschen, Jubelrufe.
Applaus für Aldi. Absurd. Das empfanden auch manche Demonstranten so. Denn natürlich waren sie nicht eigentlich da, um einen Aldi zu retten. Ein milliardenschweres Unternehmen mit mehr als 4.000 Geschäften allein in Deutschland braucht keinen Zuspruch von der Straße. Die Demonstranten waren da, um das, was danach kommt, zu verhindern: die weitere Verdrängung. Die Markthalle Neun gilt als Gentrifizierungsmotor in einem Kiez, in dem mehr als ein Viertel der Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängig ist.
Abgesehen vom Aldi, der seit 1977 dort ist, sieht die Markthalle aus wie der Instagram-Account eines Foodies. Überall kleine Stände, die Snacks aus aller Welt anbieten, es gibt Biogemüse in Bastkörben, Dinkelcroissants neben Schrotbrot, geräuchertes Duroc-Schwein und natürlich grüne Smoothies. An Ort und Stelle gerösteten Fairtrade-Kaffee kann man auch kaufen. Riecht gut hier, sieht auch gut aus. Auf Immobilienportalen werden Wohnungen in der Umgebung mit der Nähe zur Markthalle beworben. Beim wöchentlichen Streetfood Thursday werden kalifornische Tacos, chinesische Nudeln und marokkanische Tajine angeboten. Die Besucher sind so international wie die Imbisse, hier trifft sich das kosmopolitische neue Berlin. Und plötzlich verkörpert der Aldi in Sichtweite für die Alteingesessenen ein stabiles Früher, wirkt der Außenposten des Albrecht-Imperiums fast wie ein Hausbesetzer.
Versteht man den Discounter in der Markthalle als Relikt, mag sein Ende zwangsläufig wirken. Man kann in dem Laden aber auch, ganz im Gegenteil, ein Symbol der Koexistenz erblicken. Zwischen denen, die das Geld haben, um ihren Konsum moralisch zu unterfüttern; und denen, die es eben nicht haben. Zwischen denen, die die Welt ein wenig retten können; und denen, die sich irgendwie über die Zeit retten müssen. Zwei Lebenswelten unter einem Dach.
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