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Bahnverkehr | Von fliegenden Schlesiern und laufenden Fahrgästen

Jürgen Murach von der Senatsverwaltung Stadtentwicklung und Infrastruktur, Berlin. © Alexander Hertel.

"Das war der absolute Tiefpunkt", sagt Jürgen Murach resignierend. Der Mittfünfziger ist in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung für die Verkehrspolitik zuständig. Seit 25 Jahren kümmert sich der Eisenbahnenthusiast auch um die Bahnverbindungen nach Polen. Aber viele gibt es davon nicht mehr. Am 14. Dezember 2014 - dem Tiefpunkt - stellte die Deutsche Bahn alle Direktverbindungen nach Wrocław, dem ehemaligen Breslau, ein. Fünf Fernzüge verkehrten danach noch täglich zwischen Deutschland und Polen. "Alle auf der Strecke Warschau-Berlin. Weniger waren es seit dem Mauerfall nie", sagt Murach.

Geografisch bilden die beiden Staaten mittlerweile das Zentrum Europas, auf den Schienen verläuft zwischen ihnen jedoch eine unsichtbare Grenze. Die gab es nicht immer.

Im Nazi-Express nach Breslau

Die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts: Die Nationalsozialisten treiben ihre Kriegspläne systematisch voran und investieren dabei auch in den technischen Fortschritt. Der zeigt sich besonders auf der Schiene. Schon seit 1933 verkehrt zwischen Berlin und Hamburg mit dem "fliegenden Hamburger" der erste Stromlinienzug der Welt. Er war auch der schnellste.

Ähnliches wünscht sich die Reichsbahn für die deutschen Ostgebiete. Und so entwickelt der Hersteller Linke-Hofmann in Breslau in Anlehnung an das Hamburger Vorbild einen "fliegenden Schlesier". Am 15. Mai 1936 befährt der violette Schnellzug erstmals die Strecke Beuthen-Breslau-Berlin. Die knapp 350 Kilometer zwischen der schlesischen Metropole Breslau und der deutschen Hauptstadt legt er dabei in zwei Stunden und 45 Minuten zurück. Höchstgeschwindigkeit: 160 Kilometer pro Stunde. Doch bereits 1939, kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen wird die Verbindung wieder eingestellt.

Gekappte Schienen an der Grenze

Die Grenze verläuft seit Kriegsende entlang der Oder und Neiße. Schlesien und Wrocław gehören fortan zur Volksrepublik Polen. "Da gab es große Einschnitte", sagt Jürgen Murach. 1946 demontiert die Rote Armee alle Zufahrtsgleise nach Polen. Später hätten auch "die sozialistischen Freunde die Strecken im Grenzgebiet zurückgebaut. Aus strategischen Gründen". Die Züge des "Fliegenden Schlesiers" gehören ab 1945 ebenfalls der Volksrepublik. Sie fahren nach dem Krieg noch einige Jahre internationale Strecken, etwa nach Wien oder Prag. 1973 werden die Züge außer Dienst gestellt.

Mit der Mauer fällt auch die Sowjetunion. Und so nehmen die unabhängige Republik Polen und die wiedervereinte Bundesrepublik bereits 1992 mit dem Berlin-Warszawa-Express eine direkte Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten auf. In den folgenden zwei Jahrzehnten wird sie mehrfach modernisiert. In mittlerweile fünfeinhalb Stunden legt der Zug die 550 Kilometer zurück. Das sei aber eine Ausnahme, sagt Murach: "Sowohl in Berlin als auch in Warschau lagen die Prioritäten nach der politischen Wende auf nationalen Strecken." In die grenznahe Infrastruktur habe es kaum Investitionen gegeben.

Zwei Lokwechsel auf 350 Kilometern

Die Folgen zeigen sich auch auf der wieder eingeführten Strecke Berlin-Wrocław. Krieg, Grenzverschiebung und Fremdherrschaft haben die ehemalige Expressstrecke arg gebeutelt. Marode Gleise und Abschnitte ohne Oberleitung ließen die Fahrtzeit auf vier Stunden anschwellen. Wegen der fehlenden Elektrifizierung muss in Cottbus eine Diesellokomotive angekoppelt werden, hinter der Grenze übernimmt dann eine polnische E-Lok. Mit dem Auto oder Bus ist man wesentlich schneller.

Beiderseits der Grenze kursieren teils abenteuerlichen Geschichten über die Reisen mit dem "EC Wawel". Wer nicht musste, meidet ihn. Bis eben zu jenem historischen Tiefpunkt im Dezember 2014, als die Verbindung komplett eingestellt wird. Fortan erreicht man Wrocław von Berlin aus per Bahn nur über Umwege. Die Fahrt dauert fünfeinhalb Stunden, doppelt so lange wie vor 80 Jahren.

Zu Fuß über die Grenze

Grenzübergreifende Zugverbindungen seien hochkompliziert, erklärt Jürgen Murach. Mit den Bundesländern, Wojewodschaften, Bahnunternehmen, Verkehrsministerien und Bahnaufsichtsbehörden seinen fast ein dutzend Akteure beteiligt. Und besonders das deutsche Eisenbahnbundesamt bremse den Bahnverkehr regelmäßig wieder aus.

So erließ das Amt im vergangenen Jahr eine Regelung, der zufolge Züge nur in deutsche Bahnhöfe einfahren dürfen, wenn sie über ein bestimmtes Sicherheitssystem verfügen. Die polnische Bahn nutzt jedoch ein anderes. Im Alltag von Reisenden und Pendlern zwischen Schlesien und Sachsen heißt das: die polnische Regionalbahn hält in Zgorzelec, kurz vor der deutschen Grenze. Die Fahrgäste laufen dann zu Fuß 600 Meter über die Grenzbrücke bis in den Bahnhof Görlitz. Dort steigen sie dann in eine deutsche Regionalbahn.

Ein Lichtblick und düstere Aussichten

"Das ist Armutszeugnis für die Entwicklung des Grenzraums", sagt Anja Schmotz. Sie ist die Sprecherin der "Initiative deutsch-polnischer Schienenverkehr" (KolejDEPL). Die formierte sich Anfang 2015 in Dresden und will die Politik zum Handeln zwingen. 2016 ist Wrocław Kulturhauptstadt Europas. De facto sei die Stadt aber "auf der Schiene von Deutschland abgeschnitten", meint Schmotz. Und so forderte die Initiative die Wiedereinführung der Verbindungen Dresden - Wrocław und Berlin - Wrocław. Mit Erfolg. Ein Jahr nach dem "Tiefpunkt" wird Dresden - Wrocław ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2015 wieder dauerhaft bedient. Auf der Strecke des "fliegenden Schlesiers" wird zwischen April und September 2016 ein so genannten "Kulturzug" verkehren. Die Regelung gilt jedoch nur für ein Jahr.


Darauf einigte sich im September 2015, auch aufgrund des öffentlichen Drucks, ein runder Tisch mit Vertretern beider Länder. Einen Monat später kam in Polen die nationalkonservative Partei "Recht und Gerechtigkeit" an die Macht. "Die haben bereits während ihrer letzten Regierungszeit von 2005 bis 2007 gegen den grenzübergreifenden Bahnverkehr gewettert" erinnert sich Jürgen Murach. "Seit der Wahl haben wir von unseren polnischen Kollegen nichts mehr gehört".


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