SPIEGEL ONLINE: Frau Rickman-Poole, im Winter in einen eiskalten See zu springen - beim Gedanken schüttelt's mich. Wie kamen Sie dazu?
Vivienne Rickman-Poole: Ich habe schon als Kind immer nur draußen gebadet. Meine Mutter stammt von den Orkney-Inseln und wuchs zu einer Zeit auf, als es dort noch keine Schwimmbäder gab. Für sie war es normal, das ganze Jahr unter freiem Himmel zu schwimmen. Als ich dann vor 16 Jahren nach Snowdonia in Wales zog, habe ich mit einer Freundin die Bergseen der Gegend erkundet - und haben auch am Ende des Sommers nicht aufgehört. Im Winter trugen wir erst noch Neoprenanzüge, später trauten wir uns in Badeanzügen ins kalte Wasser. Mittlerweile liebe ich es, den Wechsel der Jahreszeiten auf der Haut zu spüren.
SPIEGEL ONLINE: Beheizte Schwimmbäder sind doch aber auch ganz angenehm...
Rickman-Poole: Ich war kürzlich in einem Schwimmbad und konnte die ganze Zeit nicht abschalten. Meine Gedanken kreisten darum, was ich noch alles zu erledigen hatte. Wenn ich jedoch umgeben von Bergen allein in einem kalten See schwimme, denke ich an absolut gar nichts. Nur daran, zu atmen und meine Arme und Beine zu bewegen. Da setzt der Überlebenstrieb ein. Und ich fühle mich jedes Mal unglaublich lebendig, wenn ich aus dem Wasser steige. Ich liebe diesen Afterglow, das Nachglühen. Das macht süchtig.
SPIEGEL ONLINE: Hat Ihre Leidenschaft Sie schon mal in wirklich gefährliche Situation geführt?
Rickman-Poole: Einmal bin ich nach einem Bad in einem eiskalten See zu schnell wieder ins Wasser gegangen, um noch ein paar Fotos zu machen. Mir kam das Wasser plötzlich warm vor. Da aber hat mein Gefühl mich getäuscht, denn Seen sind im Winter in England einfach nie warm. Ich war fast unterkühlt. Ein anderes Mal schwamm ich mit Freunden über einen See. Auf halber Strecke überraschten uns hohen Wellen, und ich hatte Angst, unterzugehen. Alles ging aber gut aus.
SPIEGEL ONLINE: Für Ihr Projekt #SwimSnowdonia wollen Sie in alle 400 Gewässer des walisischen Nationalparks zumindest den Zeh halten. Wie kamen Sie auf die Idee?
Rickman-Poole: Eine Freundin brachte mich 2013 darauf, sie ging einen Monat lang jeden Tag Radfahren. Ich dagegen stieg dann 30 Tage am Stück in immer neue Gewässern - und entwickelte den Ehrgeiz, ganz Snowdonia zu durchschwimmen. Mittlerweile war ich schon in 150 Gewässern.
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie dabei erfahren?
Rickman-Poole: Ich sehe die Berge mittlerweile in einem ganz neuen Licht. Ich will sie nicht mehr besteigen, um von oben auf die Welt zu blicken. Ich will vielmehr ihr Inneres erkunden, in ihrem Zentrum sein. Dieses Gefühl überkommt mich, wenn ich im Wasser zwischen ihnen treibe. Ich möchte aber nicht nur neue Seen entdecken, sondern auch in anderen Arten von Gewässern schwimmen: etwa in unterirdischen, dunklen Pools in ungenutzten Steinbrüchen.
SPIEGEL ONLINE: Auf Instagram dokumentieren Sie Ihr Projekt mit einer Unterwasserkamera. Wie kamen Sie überhaupt dazu, Ihre Videokamera mit ins Wasser zu nehmen?
Rickman-Poole: Ich gehe besonders gern in dunklen Seen schwimmen: Bevor ich ins Wasser gehe, bin ich jedes Mal nervös. Beim Schwimmen aber verfliegen alle Ängste, und ich fühle mich einfach nur fantastisch. Anfangs mochte ich unter Wasser nicht einmal meine Augen öffnen, weil ich mich vor imaginären Monstern fürchtete. Ich band mir also eine Videokamera um den Bauch und filmte in die Tiefe. Außer meinen Armen und Beinen war aber nichts auf den Aufnahmen zu sehen. So kam ich auf die Idee, Körper unter Wasser zu fotografieren.
SPIEGEL ONLINE: Was fasziniert Sie daran?
Rickman-Poole: Mich interessiert die Form des weiblichen Körpers im Wasser. Viele meiner Freundinnen sind sehr selbstkritisch, was ihren Körper angeht. Sie mögen es nicht, wenn ich meine Kamera auf sie richte. Im Wasser ist es ihnen aber egal, dort fühlen sie sich anmutig und frei. Ein Zustand, der dem Fliegen ähnelt. Meine Bilder zeigen Menschen in einem glücklichen Schwebezustand.
SPIEGEL ONLINE: Als besonders unheimlich gelten die schottischen Lochs. Schon mal im Loch Ness geschwommen? Waren Sie aufgrund der Legende von Nessie besonders nervös?
Rickman-Poole: Komischerweise nicht. Ich musste immer nur daran denken, wie unglaublich tief Loch Ness ist. Es war Februar, deshalb habe ich es nicht länger als 20 Minuten im Wasser ausgehalten. Anschließend wärmte mich in einem Pub am Kamin auf. Meine Hände zitterten vor Kälte, und meine größte Sorge war es, keinen Kaffee zu verschütten. Das zeigt, was unsere wahren Ängste sind.
SPIEGEL ONLINE: In Ihren "Wild Swimming"-Kursen führen Sie ins Winterschwimmen ein. Wie laufen die Ausflüge ab?
Rickman-Poole: Wir wandern durch die Berge zu einem einsamen See, und unterwegs erkläre ich den Leuten, wie man sich in der Natur orientiert und verhält. Viele Teilnehmer springen nur einmal kurz ins kalte Wasser. Trotzdem macht sie das total euphorisch. Eine Tour führt zu meinem Lieblingssee Llyn Du'r Arddu am höchstem Berg von Wales, dem 1085 Meter hohen Snowdon.
SPIEGEL ONLINE: Welche Tipps geben Sie den Anfängern?
Rickman-Poole: Einfach versuchen! Auch wenn Sie nur die Zehen eintauchen. Niemals das Wetter unterschätzen und schon Tage vorher den Wetterbericht checken - Regen, Schnee und Wind kann die Temperatur und die Strömung des Wassers stark beeinflussen. Nicht zu viel über Klamotten, Entfernungen, Zeiten und Temperaturen nachdenken - - machen Sie es aus purer Freude, nur für sich. Hören Sie auf Ihren Körper. Das wären meine Tipps. Ich organisiere auch Kreativtage, bei denen ich die Leute dazu animiere, erst zu schwimmen und dann kreativ zu sein. Egal ob sie gern schreiben, malen oder fotografieren.
SPIEGEL ONLINE: Bringt Sie ein Bad in kaltem Wasser wirklich auf bessere Ideen?
Rickman-Poole: Ja, definitiv. Kraulen in kaltem Wasser ist für mich wie Yoga. Ich gerate in einen Zen-artigen Zustand. Mein Geist wird völlig klar und öffnet sich für neue Ideen.