"Was wünschen die Damen?" fragt der Barkeeper mit Schmalztolle und lässt dann Absinth über Zuckerwürfel ins Glas laufen. Am Tisch nebenan spielen derweil Typen im feinem Anzug und Frauen mit Federschmuck im Haar Roulette um Fünf-Millionen-Mark-Scheine.
Bei den "Bohème Sauvage"-Partys in Berlin werden die Zwanzigerjahre zelebriert. Im Stil der Zeit gekleidet, tanzen die Partygäste Charleston so wie einst im legendären Tanzhaus Moka Efti und sprechen sich mit "Herr" und "Fräulein" an. Den Krieg hat das "Berghain der Zwanzigerjahre" nicht überlebt, aber dafür feiert es nun in der Krimiserie "Babylon Berlin" seine Auferstehung.
Als Kulisse für das Moka Efti diente den Regisseuren Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten das ehemalige Stummfilmkino Delphi. Betritt man den prächtigen Saal, der mittlerweile für Tanzveranstaltungen, Konzerte und Theater genutzt wird, sind die Zwanzigerjahre plötzlich ganz nah - auch ohne die Hilfe von Set-Designern. Sogar die alten Logen und der Orchestergraben, in dem früher Filme mit Livemusik untermalt wurden, existieren noch.
"Kann gut sein, dass Marlene Dietrich und Fritz Lang hier schon durchgerauscht sind", meint Nikolaus Schneider, der das alte Lichtspielhaus seit 2013 zusammen mit seiner Frau als "Theater im Delphi" betreibt. Seit seiner Schließung 1959 hatte das Delphi die Jahrzehnte bis zur Wiedereröffnung als Gemüselager, Briefmarkenladen und Wäscherei überdauert.
800 Ballsäle und Kneipen mit Tanzlizenz
Wer in Berlin in die Goldenen Zwanziger abtauchen will, sollte eine Tour mit dem Historiker Arne Krasting von Zeitreisen Berlin buchen. Bei seinen Stadtführungen trägt er Schiebermütze und Knickerbockerhosen und bietet den Teilnehmern Zigaretten aus einer original Overstolz-Schatulle aus den Zwanzigern an. Der gleichen Marke, die auch Kommissar Rath in "Babylon Berlin" raucht. Warum ihn die Zwanzigerjahre so faszinieren? "Weil sie schon fast hundert Jahre her, aber unserer Zeit trotzdem nah sind."
Am Rosa-Luxemburg-Platz deutet er auf modern wirkende Bauhaus-Architektur und auf das Babylon Kino, in dem Stummfilme mit der Musik aus einer Kino-Orgel gezeigt werden. "So wie früher ist Berlin heute wieder eine Metropole voller Lebensgier und Exzess, in der sich jeder ausprobieren darf." Für ihn sind die Jahre zwischen dem Ende der Inflation 1924 und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 ein kurzer Lichtblick der deutschen Geschichte. "Berlin war damals sehr international: Josephine Baker trat hier auf, Marlene Dietrich begann ihre Karriere, und die Filmindustrie konnte mit Hollywood mithalten."
Selbst auf dem Alexanderplatz, einst Mittelpunkt der Berliner Unterwelt, stehen noch Gebäude aus der Weimarer Republik. "Für die Aufnahmen von 'Babylon Berlin' musste hier gar nicht viel verändert werden", erzählt Krasting. Er kennt sämtliche Drehorte der 40 Millionen Euro teuren Fernsehproduktion, die bislang nur beim Bezahlsender Sky zu sehen war: etwa die Bellmann Bar in Kreuzberg, in der Serien-Kommissar Rath einen Charleston aufs Parkett legt, die Bar Tausend, die als Kulisse für den verruchten Nachtklub Der Holländer dient - oder das Rote Rathaus, das als ehemaliges Berliner Polizeipräsidium Rote Burg neu inszeniert wurde.
Als Krasting dort die Treppen emporsteigt, erzählt er: "1920 wurde hier der Zusammenschluss von Berlin und seinen Vororten beschlossen. So wurde die Stadt damals flächenmäßig nach Los Angeles zur zweitgrößten Stadt der Welt. Nach New York und London hatte Berlin sogar die drittmeisten Einwohner weltweit."
Entsprechend lebendig war das Nachtleben: In dem original Reiseführer aus den Zwanzigerjahren "Jeder einmal in Berlin", den Krasting zwischendurch immer wieder zückt, werden hauptsächlich Amüsierpaläste beworben. "Es gab damals 800 Ballsäle und Kneipen mit Tanzlizenz in Berlin", sagt Krasting. "In den Zwanzigern wurde hier noch mehr gefeiert als heute." Immer wieder zeigt er auf seinem Tablet Szenen aus "Babylon Berlin". Als offizieller Partner der Serie hat Zeitreisen Berlin seit dem Serienstart im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Lizenz dazu.
Zwanziger-Jahre-Hostel eröffnet
Letzte Station der Tour ist das Ballhaus Berlin von 1905, in dem sogar noch die alten Tischtelefone funktionieren. Betrieben wird der Laden von Ex-Filmproduzent Christof Blaesius, der für diesen Ort auch eine der ältesten Kneipen der Stadt gerettet hat: das Alt-Berlin von 1893, in dem Bertolt Brecht seinen eigenen Stuhl hatte und später Quentin Tarantino gerne am Tresen saß. 2014 musste es wegen Haussanierung schließen.
Blaesius jedoch übernahm das Inventar - darunter Tresen, Fenster, Bilder - und die langjährige Barchefin. Zwei Jahre später eröffnete er das Alt-Berlin wieder, und zwar im Getränkelager seines Ballhauses. "Der Ort wird von den Gästen wie eine andere Welt wahrgenommen", sagt er. Genauso wie der Ballsaal mit seinen rotgoldenen Wänden, in dem die Menschen noch immer wie früher schwoofen, Burlesque-Tänzerinnen auftreten und Kabarettabende stattfinden. "Wir wollen den Geist der Golden Twenties in die Gegenwart retten", sagt Blaesius. Gleich neben dem Ballhaus hat er kürzlich noch ein Hostel im Stil der Zeit eröffnet.
Warum die Zwanziger gerade wieder in ganz Berlin gefeiert werden? Bei Swingtanzabenden in Clärchens Ballhaus, Partys im Stil der Zwanzigerjahre wie "Bohème Sauvage" oder in Bars mit Schellackplatten-DJs?
Stummfilm-Pianist Stephan Graf von Bothmer, der regelmäßig an unterschiedlichen Orten in Berlin auftritt, sagt: "Die Leute sehnen sich wieder nach einmaligen Erlebnissen und nach Handgemachtem. Wenn ich Stummfilme mit dem Klavier untermale, gleicht kein Abend dem anderen. Ich spiele immer das, was ich fühle. Heutzutage ist alles so austauschbar. Wir haben die gleichen Handys, schauen die gleichen Serien." Hundert Stummfilmkonzerte in Deutschland und im Ausland gibt Bothmer im Jahr und kann gut davon leben.
Genau wie Helmut Hellmund vom Kostümverleih "Le Boudoir" in Friedrichshain, der Kleidung im Zwanzigerjahre-Stil anbietet. Er selbst trägt ganzjährig den Look der Weimarer Republik und sagt: "Ich kann mich herrlich herunterschrauben, wenn ich zu Hause Musik mit dem Grammofon höre und meinen alten Kachelofen mit Kohle befeuere. Kein Handy, kein Internet. Die Zwanzigerjahre sind einfach eine wunderbare Form der Realitätsflucht."