Mit offenem Hosenschlitz tobt der Sänger von Steal Shit Do Drugs über die Bühne, kreischt Unverständliches ins Mikro und springt dann in die tobende Menge. Im Central Saloon, wo Nirvana einst ihr erstes Konzert vor leerem Haus spielten, riecht es nach Schweiß, Bier, ja, es stinkt geradezu nach Teen Spirit. Gegenüber der Bühne brennt vor einem Hausaltar eine Kerze für Kurt Cobain, der in diesem Jahr 50 geworden wäre.
Kurt Cobain ist schon lange tot, doch Seattles Musikszene ist nach wie vor lebendig. Gerade erst fand das erste Upstream Music Fest statt - rund 80 Prozent der mehr als 300 Newcomer-Bands, die dabei auftraten, stammen aus der regnerischen Stadt am Pazifik.
"Seattle ist bis heute der perfekte Ort für junge Musiker, um sich auszuprobieren", sagt Quincy Jones. Es gebe viele kleine Klubs, in denen sie auftreten könnten. Der 84-jährige Musikproduzent und Jazztrompeter kam in die Stadt zurück, in der er einst zur Highschool ging, um das Festival zu eröffnen.
Musik ist seit jeher die treibende Kraft in der Drei-Millionen-Metropole - und Seattle nicht nur die Geburtsstätte des Grunge. Auch Jimi Hendrix, Rap-Urgestein Sir Mix-a-Lot und neue Acts wie der Hip-Hop-Star Macklemore oder die Indie-Folk-Gruppe Fleet Foxes stammen aus der Stadt im US-Bundesstaat Washington.
Schon während der Prohibition bis in die Sechzigerjahre war die Stadt für ihre Jazzklubs entlang der Jackson Street berühmt. "Mein Kumpel Ray Charles und ich sind hier schon als Teenager durch die Bars gezogen und haben mit Bebop, Blues und Soul experimentiert", sagt Jones. "Mit 14 stand ich bis spät in die Nacht mit Billie Holiday auf der Bühne und schlief am nächsten Tag in der Schule ein."
Von den Neunzigern erzählt Wes Reed von der Heavy-Metal-Band Heiress: "Damals waren wir völlig auf uns allein gestellt. Alles, was mit Rockmusik zu tun hatte, spielte sich im Untergrund ab." Der Musiker sitzt mit seinem Kollegen Nathan Turpen im Crocodile Club im Ausgehviertel Belltown. Dort spielten einst Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden ihre ersten Konzerte, während viele Einwohner Seattles ihr Geld noch als Holzfäller und in den Fabriken von Boeing verdienten.
Ein Gesetz habe es Teenagern damals verboten, auf Konzerte zu gehen, erzählt Reed, also habe es lauter illegale Shows in Privathäusern, Kellern und Lagerhallen gegeben. "Bands spielten einfach drauflos, ohne zu wissen, wie ein Song enden würde." "Die Musik war alles andere als perfekt", sagt auch Turpen. "Aber genau darin lag ihr Reiz. Nur so konnte Grunge entstehen. Heute sind die Shows anonymer."
"Jeder kennt jeden, man unterstützt sich"
Aber bis heute hat sich eines nicht verändert: "Obwohl Seattles Wirtschaft heute boomt, gibt es immer noch genügend Raum für eine unverwechselbare Gegenkultur", sagt Eric Magnuson, der eine "Grunge Redux"-Musiktour durch Belltown organisiert und am Ende im alten Proberaum von Pearl Jam unter der Schmiedewerkstatt Black Dog Forge landet. "Viele Klubs, Bars und Plattenläden existieren seit Jahrzehnten und sind für die Menschen Teil ihrer Identität. Essen gehen und sich dann eine Band anschauen - das gehört in Seattle einfach dazu."
"In Seattle kennt jeder jeden, man unterstützt sich gegenseitig", sagt der Musiker Ayron Jones. Der 26-Jährige, der mit seinem Baseballcap und Goldschmuck wie ein Rapper aussieht, wurde von Sir Mix-a-Lot in einem Klub entdeckt, als er dort ein Gitarrensolo à la Jimi Hendrix spielte. "Die Stadt ist relativ klein und es gibt kein so starkes Konkurrenzdenken wie in New York oder Los Angeles", sagt er. "Ich nenne das 'The Seattle Way'."
Als einer der vielversprechendsten Newcomer Seattles gilt Ayron Jones aber auch deshalb, weil er in seinen Songs die gesamte Musikgeschichte der Stadt vereint: Sixties-Rock, Blues, Grunge und Hip-Hop-Beats. Er könne gar nicht anders, als sich von der Vergangenheit seiner Heimatstadt inspirieren zu lassen, so Jones: "Ich komme aus dem gleichen Viertel wie Jimi Hendrix, dem Central District. Nirvana haben auch mal dort gewohnt. Da war es klar, dass ich eines Tages eine Gitarre in die Hand nehmen würde."
Und wie klingt Seattle heute, 23 Jahre nach dem Tod von Kurt Cobain? Immer noch laut und dreckig. Jedenfalls beim Konzert von Thunderpussy im völlig überfüllten Kellerklub Comedy Underground. Im Publikum trinken Frauen mit grünen Haaren Dosenbier, während sich die Sängerin in Glitzerstrumpfhose mit Loch am Hintern auf der Bühne verrenkt und ihre Gitarristin im Glamrock-Outfit so weit zurückgelehnt Gitarre spielt, als würde ihr ein Sturm entgegenblasen.
Produziert werden Thunderpussy von Pearl-Jam-Gitarrist Mike McCready. Mit seiner zerkratzten Fender in der Hand drängelt er sich zur Bühne durch und spielt ein paar Rockklassiker mit alten Musikerfreunden. Die Gitarren werden getauscht, jeder darf mal ans Mikro. Bei der Zugabe "Jumpin' Jack Flash" von den Stones kommt die Gitarristin von Thunderpussy dazu. Es ist ein Abend, der sich wie eines der spontanen Kellerkonzerte der Neunziger anfühlt: laut, verschwitzt, familiär.