Als uns das Jaulen der Sirenen gegen zwei Uhr weckt, ist der Griff zu Brille, Smartphone und Hose schon Routine. Hell und luftig fand ich meine Wohnung im Süden Tel Avivs beim Einzug, jetzt kommt sie mir vor wie eine windige Schuhschachtel. Einen Schutzraum hat das Haus nicht, also schnell runter ins Treppenhaus, die zweite Etage soll am sichersten sein. "Wie bei der Armee früher, als sie uns mit Schlafentzug quälten", jammert mein Freund. Dabei ist er in einem Kibbuz an der Grenze zum Libanon aufgewachsen und raketenerprobt.
Früher am Abend witzelten junge Israelis auf Facebook: "Immerhin ist die Hamas zuverlässiger als die Kerle in Tel Aviv. Irgendwann melden sie sich." Der Humor ist noch nicht verloren am Beginn dieses neuen Kriegs mit Gaza, der sich wie schon 2014 parallel in den Sozialen Medien abspielt. Morgen wird eine Frau kommentieren: "Aber dann führen sie dich nach Petach Tikwa aus!" Der Vorort von Tel Aviv gilt als besonders langweilig. Dort wird in dieser Nacht eine Rakete einschlagen, aber das wissen wir noch nicht.
Im Treppenhaus herrscht eine seltsame Intimität aus Schlafanzügen und angehaltenem Atem. Wir hocken auf den Stufen. Ein Nachbar hält sich die Ohren zu. Die junge Mutter von gegenüber spricht betont gelassen mit dem Lockenkopf auf ihrem Arm, in der Hand die Leine ihres Terrier. Mein Freund bekommt auf Whatsapp ein Bild mit Quentin Tarantino, hineinmontiert in - natürlich - ein Treppenhaus. Der Filmemacher lebt seit 2019 mit seiner israelischen Frau im schicken Norden der Stadt. Hat also vermutlich einen Schutzraum. Wir lachen. Dann kracht's.
Am Vortag hatte ich meine Mutter in München noch am Telefon beruhigt, dass sich die Nachrichten in Europa immer viel dramatischer anhören. Dass die Raketen nicht ins Zentrum von Tel Aviv reichen. Das glaube ich immer noch. Trotzdem zuckte ich heute bei jedem Reifenquietschen vor dem Fenster zusammen, und duschte im Eiltempo. Bloß nicht mit Seife in den Augen überrascht werden, und dann nackig ins Treppenhaus stolpern. Als ich am Abend dumpfe Schläge aus der Ferne hörte, fragte ich mich, wo die Sirene blieb. Nach einer Weile erst dämmerte es mir. Das sind die Böllerschüsse zum Fastenbrechen, wie schon den ganzen Ramadan.
Wieder scheppert es ordentlich. "Das war nah", sagt einer. "Die haben das ganze Geld aus Katar in zehn Minuten verpulvert." Das Kind wimmert, der Hund jault, der ängstliche Nachbar hält sich die Ohren zu. Immer wieder geht das Licht aus, wegen der Zeitschaltuhr - und einer muss aufstehen. Wirklich Angst habe ich nicht. Zumindest nicht um mich selbst. Immerhin habe ich dieses Mal ein Treppenhaus. Im Gaza-Krieg 2014 wohnte ich zur Untermiete in einem Pavillon auf dem Dach eines Mietshauses. Die Außentreppe zur Straße wackelte auch ohne Alarm gefährlich. Also setzten wir uns nach draußen - um wenigstens was zu sehen.
Der Iron Dome, das israelische Abwehrsystem, schien ganze Arbeit zu leisten. Nach jedem Alarm herrschte kurz Stille, dann zischte es zweimal, und die Abwehrraketen machten dumpf "Bumm!" Manchmal tranken wir mit schlechtem Gewissen ein Bier dabei, und versuchten nicht dran zu denken, dass in Gaza gerade tatsächlich Häuser explodieren und Menschen sterben. Die Hamas hatte angekündigt, den Iron Dome diesmal mit einem Raketengewitter zu überfordern. Jedes Mal, wenn Ruhe einkehrt, stehen wir auf, tapsen barfuß zu unseren Wohnungen. Grinsen uns zu. "Bis nachher!" Dann geht's wieder los.
Eine seltsame neue Realität. Es braucht nicht viel, dass der stets brodelnde Konflikt überkocht. Aber diesmal waren selbst die Israelis überrascht, hatte man doch gerade die Rückkehr ins normale Leben gefeiert. Bald sollte das Land für geimpfte Touristen öffnen. Stattdessen steht Israel nun mit Gaza im heftigsten Luftstreit seit sieben Jahren - und Netanjahu hat angekündigt, so schnell auch nicht beizugeben.
Dabei schienen seine Tage als Premier noch am Montag gezählt. In der Nacht feuerte die Hamas dann die ersten Raketen und brach damit unerwartet die gewohnten "Spielregeln", den Tanz aus Grenzraketen, Lockerungen und Strafmaßnahmen durch die Besatzer.
Die Haustür schwingt auf und ein weiterer Nachbar stürmt die Treppe hinauf. "Mein Taxifahrer ist bei jedem Alarm stehengeblieben und weggerannt." Er lacht. Es klingt ein bisschen hysterisch.
War es die Hitzewelle; die Kollision von Pessach-Fest und Ramadan; das Tik-Tok-Video, in dem ein junger Palästinenser einen Orthodoxen ohrfeigte; der neue rechtspopulistische Polizeichef; die abgesagten Palästinenserwahlen; die Auswirkungen der Pandemie; ein abgelenkter Netanjahu; die von ihm hoffähig gemachten Faschisten; drohende Zwangsräumungen in Ost-Jerusalem; oder der provokante Marsch zum jüdischen Jerusalemtag? Vielleicht alles zusammen. Am Montagmorgen eskalierte die Demonstration am Tempelberg mit 300 verletzten Palästinensern. Zu Mittag forderte die Hamas Israel auf, Armee und Polizei aus Ost-Jerusalem abzuziehen. Andernfalls würden die "Zionisten" mit massiven Konsequenzen rechnen müssen.
In der Früh kommen mir die Vögel besonders laut vor. Dann merke ich, dass nur die üblichen Geräusche fehlen. Die Kinder auf den Balkonen, die Handwerker, der Klavierspieler. Eine Whatsapp-Nachricht von einem palästinensischen Freund aus Hebron: "Pass auf dich auf, Habibti!" Vor Corona feierten wir zusammen in Berlin. Gerade mal zehn Tage ist es her, da wollte er nach Tel Aviv kommen. Zum Tanzen. Natürlich bekam er keine Genehmigung von der israelischen Armee. In den Palästinensergebieten ist Covid noch lange nicht vorbei. Geimpft hat Israel als Besatzungsmacht gerade mal die Arbeiter, die täglich über die Checkpoints ins Land kommen. Dabei liegen hier angeblich zehn Millionen ungenutzte Dosen AstraZeneca herum.
"Arabs do it better", heißt die Party-Reihe im Tel Aviver Bezirk Jaffa, zu der wir wollten. Ein DJ ist Jude, die anderen sind Palästinenser beziehungsweise arabische Israelis. Egal welche Religion oder Sexualität, jeder ist willkommen. Ich ging alleine mit jüdischen Queer-Freunden. Wir wunderten uns ein wenig, dass diesmal so wenige Araber dabei waren . . . War das schon ein Zeichen? Jaffa gilt den Israelis in ruhigen Zeiten als Beispiel für Koexistenz. Wobei sich diese auch dann für die meisten Juden auf Hummus bei Abu Hassan beschränkt. Ein bekannter arabischer Schwulenaktivist aus Jaffa postet jetzt: "Du gehst schlafen. Einen Tag wachst du auf, und alle herzen dich als den süßen Araber. Am nächsten Tag bist du Staatsfeind."
Eine jüdische Freundin schickt mir ein Foto von einem ausgebrannten Auto in Jaffa. Es gehört ihrem arabischen Ex-Partner. Ob es Araber angezündet haben, die es für ein jüdisches Auto hielten, oder umgekehrt? Im sonst so schläfrigen "gemischten" Küstenstädtchen Akko wurde ein allseits beliebtes jüdisches Fischrestaurant abgefackelt, in der ebenfalls "gemischten" Stadt Lod tags zuvor eine Synagoge. Eine andere jüdische Freundin teilt jetzt auf Facebook einen Spendenaufruf für eine arabische Familie aus Lod. Ihr Geschäft wurde von jüdischen Extremisten angezündet. Wie schon im Gaza-Krieg 2014 wirken die Sozialen Medien wie ein Wahrheitsserum. "Linke" Freunde aus Tel Aviv entpuppen sich als Nationalisten, und dafür der ein oder andere Netanjahu-Anhänger als differenzierter Denker.
Am Nachmittag sitze ich wieder im Treppenhaus, dieses Mal mit einer tropfnassen Nachbarin im Badeanzug. Sie war gerade im Meer. Ich im Bett, um etwas Schlaf nachzuholen. Stattdessen stürze ich mich in die Arbeit, lese auf Facebook, dass es um 18 Uhr wieder krachen soll. Fake News, sagt mein Freund. Angeblich hat die Hamas zur Warnung SMS an die Araber in Israel geschickt. Es wird sechs, es wird sieben. Ich koche und erinnere mich selbst daran, auf jeden Fall die Platte auszuschalten, wenn es losgeht.
In dieser Nacht lausche ich lange in die Stille. Sind das die Flugzeuge nach Gaza? Irgendwann höre ich Polizeisirenen. Ganz nah in den Straßen von Jaffa. Selbst wenn sich Israel und die Hamas hoffentlich bald zu einem Waffenstillstand bewegen lassen: Diese Wunden im eigenen Land werden nicht so schnell vernarben.