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Flüchtlinge im Land Landtagswahl RLP 2016 [mit Video]

Drei Tage waren die Rhein-Zeitungs-Reporter im ganzen Land unterwegs, um die Stimmung vor der Landtagswahl zu analysieren.

Unsere Reporter waren drei Tage unterwegs, um der Frage nachzugehen, was nach der Landtagswahl beim Thema Flüchtlinge passieren muss, damit wir das schaffen. Sie haben mit den Menschen gesprochen, die täglich ehrenamtlich oder hauptberuflich dafür arbeiten: den Helfern.

Von Agatha Mazur und Johannes Bebermeier

Jetzt geht die Arbeit erst los. Das zu sagen, hört sich falsch an, wenn man auf das vergangene turbulente Flüchtlingsjahr zurückblickt. Denn 2015 war Ausnahmezustand, es war das Jahr des Improvisierens, das Jahr, auf das niemand vorbereitet war. 2015 war das Jahr, in dem in einem fortschrittlichen Land wie Deutschland das Ziel lauten musste, dass kein Flüchtling auf der Straße schläft - auch in Rheinland-Pfalz.

Inzwischen haben alle Flüchtlinge im Land immerhin ein festes Dach über dem Kopf, sagt das Land, niemand muss mehr in Zelten schlafen, auch wenn noch nicht alle abgebaut sind, sicher ist sicher. Das allein war ein Kraftakt, selbst wenn man sich der Kritik vieler Migrationsexperten anschließt, dass es gar nicht so weit hätte kommen müssen, weil der Andrang vorherzusehen gewesen sei.

Doch jetzt geht die Arbeit erst los. Das mag sich zwar falsch anhören, es ist aber genau der Eindruck, den man bekommt, wenn man mit den vielen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfern spricht, die im Land täglich mit den Flüchtlingen arbeiten. 2015 ist nicht das Jahr, mit dem das Gröbste hinter Gesellschaft und Politik liegt. Egal, wer nach der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz regiert, die Flüchtlingsfrage wird wohl die größte Aufgabe sein. Denn bei all dem beeindruckenden Improvisieren im vergangenen Jahr, all den Überstunden, all den Nachtschichten der Helfer: Es ist leichter, einem Flüchtling ein Bett in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu besorgen, als ihm eine eigene Wohnung, eine Arbeit, eine Perspektive in diesem Land zu geben.

Da ist Holger Rittinger, der kommissarische Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem Stegskopf im Westerwald, in der derzeit knapp 700 Flüchtlinge leben und die Platz für 1500 bietet. Er sagt: „Wir brauchen nun klares Fahrwasser und Planungssicherheit." Da sind Günter Knautz und Kerstin Ginsberg von der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe Heller-Daadetal, die mit 400 Ehrenamtlern am Stegskopf helfen. Ginsberg sagt: „Die Politik könnte einen besseren Kommunikationsjob machen." Da ist Anke Marzi, die stellvertretende Landesgeschäftsführerin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Rheinland-Pfalz, deren Verband an 70 Prozent der Erstaufnahmen beteiligt ist. Sie sagt: „Es hat uns überrollt. Jetzt geht es darum, die Qualität in den Einrichtungen zu verbessern." Da ist Elke Mercer, die in Waldorf im Kreis Ahrweiler ehrenamtlich die Hilfe für 15 Eritreer im Dorf koordiniert. Sie sagt: „Der Staat darf sich nicht auf dem Ehrenamt ausruhen." Und da sind die Deutschlehrerin Desislava Mohrmann und der Schulleiter Heiko Schmitz, in dessen Bénédict-Akademie in Koblenz derzeit im Schnitt 20 Integrationskurse parallel laufen, nachdem es 2011 noch fünf oder sechs waren. Er sagt: „Hätte ich mehr Räume und qualifizierte Dozenten, könnte ich noch mehr Kurse anbieten."

Wie können wir das schaffen? All diese Helfer haben ganz konkrete Vorschläge, damit die Integration der Flüchtlinge im Land funktionieren kann. Oft ärgern sie sich in ihren unterschiedlichen Funktionen an unterschiedlichen Orten über genau die gleichen Dinge. Dies sind die Probleme, die die neue Landesregierung aus Sicht der Helfer lösen muss:

1. Erstaufnahmen: In Zelten schlafen zwar keine Flüchtlinge mehr, dafür aber in riesigen Industriehallen, in denen Hunderte Betten stehen, dicht an dicht, keine Privatsphäre. „Wir haben unsere ganzen Qualitätsstandards im Laufe des Jahres über Bord geworfen", sagt DRK-Vize Anke Marzi. Jetzt, da die rastlose Suche nach immer neuen Erstaufnahmeeinrichtungen erst einmal etwas ruhiger wird und das Land mehr als 3000 freie Plätze hat, gehe es darum, die Qualität zu verbessern. Es wird begonnen, Wohninseln für Familien in den Hallen zu bauen, die mit einem Sichtschutz vom Rest der Halle abgetrennt sind. Oder es wird mit Kunstschaffenden zusammengearbeitet, die die Unterkünfte mit den Bewohnern hübscher machen. Das DRK entwickelt ein Handbuch, in dem Qualitätsstandards festgeschrieben werden. Oft fehlt es noch am Mindesten. Stegskopf-Chef Holger Rittinger hat zumindest in Aussicht, dass die Flüchtlinge bald Tische, Stühle und Schränke in ihre Baracken bekommen. Bisher haben sie nur Betten. Es fehlt aber auch an Personal, nicht nur in der Verwaltung. „Unser Sanitätszentrum ist nur tagsüber besetzt", sagt Rittinger. Das führt dazu, dass bei Notfällen in der Nacht der Sicherheitsdienst jedes Mal den Rettungsdienst rufen muss. Marzi fordert zudem, dass schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen schneller festgestellt wird, was die Flüchtlinge können, und sie dann möglichst schnell Praktika machen.

2. Asylverfahren: An der Dauer der Asylverfahren hängt vieles. Nun ist das dafür zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aber eben genau das: ein Bundes-Amt. Doch das Land ist natürlich mit der Behörde über die Ausgestaltung in Rheinland-Pfalz in Verhandlungen. „Es gibt noch zu wenige Stellen, wo man einen Asylantrag stellen kann", sagt DRK-Vize Anke Marzi. Bisher gibt es im Land nur zwei, in Trier und in Ingelheim, mit insgesamt 26 Entscheidern. Das Land verhandelt gerade mit dem Bundesamt über BAMF-Ableger in weiteren Erstaufnahmeeinrichtungen, noch ist man sich aber nicht einig geworden.

Das würde den Flüchtlingen die langen Anfahrtswege ersparen oder die Wege zumindest verkürzen. Zum Beispiel den bis zu 1500 Flüchtlingen auf dem Stegskopf, die derzeit nach Trier oder Ingelheim fahren müssen, um ihren Asylantrag zu stellen. Stegskopf-Chef Holger Rittinger hätte das BAMF auch gern bei sich in der Einrichtung, nicht nur wegen der wegfallenden Anfahrtswege für die Flüchtlinge, sondern auch, weil dann gleichzeitig die Polizei mit einer Ermittlungsgruppe Migration hinzukäme, sagt er. Das hieße wesentlich mehr Polizeibeamte als die derzeit sechs dort tätigen, die sich auch stärker um die schwarzen Schafe kümmern könnten. Ob es dazu kommt? „Da hört man jede Woche etwas anderes."

3. Verteilung: „Das Verhältnis von Bevölkerung zu Flüchtlingen muss stimmen", sagt die Ehrenamtliche Elke Mercer. Bei ihr in Waldorf treffen 15 Flüchtlinge auf 900 andere Bürger. „Das ist super zu handhaben." Aber wer kommt aus welcher Erstaufnahmeeinrichtung wo hin? Dazu gibt es seit Jahren einen Verteilschlüssel, der sich an der Einwohnerzahl der Kommunen orientiert: Je mehr Einwohner, desto mehr Flüchtlinge. In Trier koordiniert das Land dann zentral die Verteilung. Stegskopf-Chef Holger Rittinger aber sagt: „Für die Flüchtlinge ist das oft schwer nachvollziehbar. Es gibt noch Flüchtlinge, die seit dem ersten Tag hier sind." Seit Oktober 2015. Andere bleiben nur wenige Wochen. Das führt zu Konflikten, denn Rittinger und seine Kollegen können das oft auch nicht erklären, weil sie es selbst nicht erklärt bekommen. Auch wenn sie die Kollegen, die darüber entscheiden, dafür nicht kritisieren wollen.

Ab und zu aber knüpfen Flüchtlinge schon in der Erstaufnahme Kontakte zu Ehrenamtlichen, Kontakte, die später in den Kommunen helfen, im Alltag, bei der Arbeitssuche, Kontakte, die über Gelingen oder Scheitern von Integration entscheiden können. Doch bisher haben Flüchtlinge kein Mitspracherecht, wohin sie kommen. Rittinger und die Stegskopf-Helfer Günter Knautz und Kerstin Ginsberg wünschen sich, dass das anders wird, dass Wünsche der Flüchtlinge berücksichtigt werden, zumindest manchmal. „Dass das nicht für alle geht, wissen wir", sagt Knautz.

4. Kommunikation: „Unklarheiten sind der Nährboden für Gerüchte", sagt Stegskopf-Helferin Kerstin Ginsberg. Sie fordert, dass die Politik ansprechbar ist, Fragen beantwortet, sich der Ängste annimmt und nicht nur kurz und knapp kommuniziert, was beschlossen ist. Auch beim Stegskopf ist das aus Sicht der Helfer nicht gut gelaufen. Stegskopf-Chef Holger Rittinger und DRK-Vize Anke Marzi haben festgestellt, dass der persönliche Kontakt, die konkrete Erfahrung mit Flüchtlingen gegen Vorurteile hilft. „Vorher ist es eine abstrakte Angst", sagt Marzi. Zur Kommunikation der Politik sagt sie: „Wie man's macht, man macht's falsch." Je länger der Zeitraum zwischen Information und Inbetriebnahme einer Einrichtung, umso mehr Fantasien entstünden, und je knapper die Zeit, umso weniger könnten sich die Bürger damit auseinandersetzen und ärgerten sich deshalb, glaubt sie.

5. Begleitung und Koordination: Die Flüchtlinge der Ehrenamtlichen Elke Mercer sind in Waldorf zu Nachbarn geworden. Nachbarn allerdings, die die Briefe nicht verstehen, die ihnen schon Tage nach dem Einzug ins Haus flattern. Nachbarn, die ständig mit Beamten in Behörden zu tun haben, dessen Sprache sie noch nicht gut genug sprechen. Nachbarn, die Hilfe brauchen bei so ziemlich allem. Wie sollte das funktionieren, fragt sich Mercer manchmal, gäbe es sie und die anderen Ehrenamtlichen nicht? Auch die Stegskopf-Helfer orientieren sich mit ihrer Hilfe inzwischen zusätzlich in die Kommunen. „Da sind sehr große Anstrengungen erforderlich personeller Art, nicht nur im Ehrenamt, sondern auch im Hauptamt", sagt Günter Knautz. DRK-Vize Anke Marzi sagt: „Wir brauchen Menschen, die vor Ort einen hauptamtlichen Auftrag haben, Flüchtlinge auf dem Weg der Integration zu begleiten." Elke Mercer findet das Konzept der Flüchtlingskoordinatoren gut, wie es sie zum Beispiel im naheliegenden Sinzig gibt. Anke Marzi wünscht sich auch mehr Migrationsberatungsstellen, die sich um alle Fragen von Menschen mit Migrationshintergrund kümmern, Schule, Arbeit, Sprache, Aufenthaltsstatus. „Gerade in ländlichen Gebieten braucht es mehr Personal, das muss das Land sehen und fördern."

6. Wohnraum: Die Ehrenamtliche Elke Mercer hat Post. Das Jobcenter hat zwei ihrer Flüchtlinge angeschrieben, die gerade Asyl bekommen haben. Am 1. April müssen sie aus der Gemeinschaftsunterkunft in Waldorf ausgezogen sein, in eine eigene Wohnung, Ende der Ansage. Wie bei allen Fragen des Alltäglichen muss auch hier Elke Mercer wieder ran, um den Flüchtlingen bei der Wohnungssuche zu helfen. Aber selbst das garantiert noch keine Wohnung. „Wir brauchen mehr Wohnraum", sagt Mercer. Alle Gemeinden in der Umgebung hätten dieses Problem, eben nicht nur die in der Stadt, sondern auch die auf dem Land wie in Waldorf. Sie wünscht sich zumindest mehr Initiative der Kommunen, mehr Suchanzeigen in der Presse. Wie groß das Problem ist, zeigt die Tatsache, dass das Land derzeit die Flüchtlinge langsamer aus den Erstaufnahmen in die Kommunen verteilt - um diese zu entlasten.

7. Sprache: Ohne Sprache keine Integration. Und doch reichen die offiziellen Angebote des Staates noch nicht aus. In Waldorf bekommen die Flüchtlinge zusätzlich zu Sprachkursen der Kreisvolkshochschule auch noch ehrenamtlichen Sprachunterricht. Auf dem Stegskopf bieten die Helfer Sprachkurse für diejenigen Flüchtlinge an, die nicht von den Einstiegskursen der Bundesagentur für Arbeit profitieren, die sich nur an Menschen aus Syrien, Eritrea, Irak und Iran richten. „Es wäre eine deutliche Verbesserung, wenn ohne Ansicht von Nationalität Sprach- und Integrationsunterricht von Anfang an erteilt würde", sagt Günter Knautz. Zudem fordert er, dass schon die Kinder in den Schulen und Kindergärten mit spezieller Förderung Deutsch lernen. Der Koblenzer Berufsfachschulleiter Heiko Schmitz findet die offiziellen Integrationskurse für anerkannte Flüchtlinge, die das BAMF fördert, sehr sinnvoll, sagt aber auch: „In den Integrationskursen erreichen die Migranten Sprachniveau B1, die deutsche Industrie benötigt aber mindestens B2 für Ausbildung und Beruf." Also eine Stufe höher.

8. Ehrenamtliche: Ohne freiwillige Helfer geht es nicht, da ist sich die Ehrenamtliche Elke Mercer sicher. Und es mache ja auch Freude, sagt Stegskopf-Helferin Kerstin Ginsberg. Mercer sagt aber: „Das Ehrenamt als verbindliche Größe einzuplanen, das geht nicht." Und manchmal wird es den Helfern auch nicht leicht gemacht. Wenn Mercer einen gehbehinderten Flüchtling zum Arzt fährt, zahlt sie die Fahrtkosten selbst. Könnte er allein mit dem Zug fahren, bekäme er die Ticketkosten erstattet.

Wie haben die RZ-Reporter ihre Recherche empfunden? Was muss jetzt passieren? Das Video mit der Analyse und Einschätzung von Agatha Mazur und Johannes Bebermeier finden Sie auf Youtube: https://m.youtube.com/watch?v=iDJmfLFAO-M.

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