2017 jährt sich Luthers Thesenanschlag zum 500. Mal. Schon jetzt bereitet man sich im Kernland der Reformation, in Thüringen und Sachsen-Anhalt, auf das Ereignis vor. Es gibt Ausstellungen, Museen werden neu gestaltet und mit Anbauten ergänzt. Welches Lutherbild haben wir heute, und wie lassen sich Luther und die Reformation angemessen feiern? Adolf Stock hat die Plätze der Reformation besucht.
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Das Manuskript:
Sprecher:
Im November 1883 wäre Martin Luther 400 Jahre alt geworden. Der Geburtstag wurde im Deutschen Reich groß gefeiert.
Marschmusik noch einmal hoch
Sprecher:
Damals hielt der Theologe Wilhelm Möller an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel eine Jubiläumsrede.
Zitator:
„Hochverehrte Versammlung! Die hinreißende Gewalt, welche Luther‘s Person noch heute über unser Volk ausübt, (…), ruht ja zum Theil auch darauf, dass er so durch und durch deutsch ist und wie kein andrer vor oder nach ihm aus der Volksseele heraus empfindet und redet und handelt.“
Sprecher:
„Ein feste Burg ist unser Gott“ steht in großen Lettern am Turm der Wittenberger Schlosskirche, die weitgehend 19. Jahrhundert ist. Sie gehört zu jenen Bauten, die im Kaiserreich Selbstbewusstsein demonstrierten. Große Männer wurden damals mit Denkmälern geehrt: Reichkanzler Bismarck bekam seine Bismarcktürme, das Hermanns-Denkmal erinnert an den tapferen Arminius, der die feindlichen Römer schlug, und bei Rüdesheim am Rhein erinnert eine zehn Meter hohe Germania an den Sieg über Frankreich 1870/71. Am Deutschen Eck, wo Mosel und Rhein zusammenfließen, ehrt ein Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I., der mit Gottes Hilfe den Erzfeind Frankreich besiegen konnte. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Standbild von einer amerikanischen Granate zerstört. Seit 1993 sitzt Wilhelm wieder auf seinem Pferd, und auf dem Sockel ist nach wie vor zu lesen.
Zitator:
„Nimmer wird das Reich zerstöret/
Wenn ihr einig seid und treu!“
Take 1: (Heinz Schilling)
„Gehen Sie nach Wittenberg. Dort sehen Sie den hohenzollernschen Luther des 19. Jahrhunderts. Das fängt an mit dem Turm der Schloss-kirche, das geht weiter natürlich mit der Thesentür, die da in Bronze gegossen ist, und wo man dann gelegentlich hört, das man darstellen kann, dass Luther die Thesen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht angeschlagen hat, dann kommt das Argument: Ja aber da ist doch die Thesentür. Ja, ja aber ist eben 19. Jahrhundert! Jedes Jahrhundert schafft sich seinen eigenen Luther. Am Anfang war es der deutsche Held, der gerade auch in den Befreiungskriegen eine Rolle spielte. Später wurde er immer stärker so borussifiziert, nicht, gucken Sie, und der ist heute noch präsent.“
Sprecher:
Der Lutherbiograf Heinz Schilling will gegensteuern. Der Luther des 19. Jahrhunderts muss aus unseren Köpfen.
Auf den braunen Autobahnschildern ist die Wittenberger Schlosskirche zu sehen. Hier hat Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür genagelt. Auch wenn die Geschichte nicht stimmen sollte: Nach offizieller Lesart begann so die Reformation.
Musik:
Ein feste Burg ist unser Gott
Sprecher:
Die Schlosskirche hat eine bewegte Geschichte. Als Luther 1546 in Eisleben starb, kam sein Leichnam nach Wittenberg und wurde in der Schlosskirche beigesetzt. Im Siebenjährigen Krieg brannte die Kirche aus. Sie wurde wieder aufgebaut und in den folgenden Jahrhunderten mehrfach saniert. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist sie eine Kirche im neugotischen Stil.
Heinz Schilling will Luther als Kind des 16. Jahrhunderts verstehen. Er will ihn nicht länger dem Zeitgeist opfern. Das – so sagt er – sei schon viel zu oft geschehen.
Take 2: (Heinz Schilling)
„Mein Argument: Wir müssen wie Archäologen durch eine 500jährige Schicht von Lutherrezeption und von Luther-Verbiegungen durch, um die Konstellation des 16. Jahrhunderts besser zu verstehen. Und im Übrigen, insbesondere in der Kirche höre ich immer: ‚Das ist ja nur historisch!‘. Das ist ein absoluter Quatsch, ‚nur historisch‘ gibt es nicht, denn auf der Basis historischen Verständnisses wird nicht nur die Gegenwart verständlich, sondern wird Zukunft gewonnen. Ohne ein Verständnis von Geschichte ist Zukunft nicht möglich.“
Musikakzent:
Sprecher:
Luther hat es gewusst: „Eine Lüge ist wie ein Schneeball: Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er“. Das gilt auch für ihn selbst, denn je länger sich die Nachwelt mit Luther beschäftigt, umso größer wird der Schneeball aus Legenden und Halbwahrheiten. Auch Stefan Rhein kennt das Problem. Er ist Leiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, die sich seit 1997 um das museale Erbe kümmert.
Take 3: (Stefan Rhein)
„Schritte – Es ist ja ganz faszinierend. Nicht unbedingt der Luther des 16. Jahrhunderts ist bekannt, sondern der Luther des 19. Jahrhunderts ist in den Köpfen auch der heutigen Zeitgenossen.“
Sprecher:
Seit 1922 ist Wittenberg Lutherstadt. 1938 hat Innenminister Hermann Göring den Namenszusatz noch einmal bestätigt. Zu DDR-Zeiten war Luther nicht so populär. Man sprach lieber von der „Chemiestadt Wittenberg“. Im Sozialismus sollte der Reformator einer handfesten Fortschrittsidee weichen. Doch auf Dauer konnte die Chemie dem Reformator nichts anhaben.
In Wittenberg gibt es nicht nur Gründerzeit-Bauten, es gibt auch authentische Luther-Orte. Am Ende der Collegienstraße, die von der Schlosskirche durch das Stadtzentrum führt, steht das ehemalige Augustinerkloster.
Atmo:
Lutherhaus Schritte
Take 4: (Stefan Rhein)
„Es ist erst mal ein großes Haus. Da passen viele Menschen hinein, eine große Familie, aber auch täglich viele Gäste.“
Sprecher:
In dem alten Kloster hat Luther mit seiner Familie gewohnt, nachdem er die entlaufene Nonne Katharina von Bora geheiratet hatte. Hausherr Stefan Rhein führt nun durch die historischen Räume, stattliche 2000 Quadratmeter wurden bewohnt. Im großen Speiseraum hat Luther die berühmten Tischgespräche geführt.
Take 5: (Stefan Rhein)
„Luthers Haus ist auch ein kulturelles Haus gewesen, man hat gemein-sam gesungen, man hat musiziert, also Luthers Haus als Vorbild für die protestantische Hausmusik.“
Musik:
Lautenmusik
Take 6: (Stefan Rhein)
„Schritte – Wir schauen hier auf ein Bild: Luther als Familienvater. Luther sitzt hier am Spinett in der Lutherstube, um ihn versammelt Katharina, die Ehefrau, seine Kinder. Und was machen sie? Sie machen Hausmusik. Aber von hausmusikalischen Ereignissen ist wenig bekannt. Und gleichwohl, Luther als Vater mit Hausmusik, das ist ein ganz wichtiges Bild, was auch für die Ideologie, für die Mentalität prägend war.“
Musik noch einmal hoch
Sprecher:
Im 19. Jahrhundert wird Luther nicht nur als Reformator gefeiert, er wird zum Inbegriff des deutschen Bürgers. Protestantisches Biedermeier – das ist die private Seite. Doch es gibt auch den politischen Luther. Er ist eng mit der zeitgenössischen Ideologie verbunden. Der Reformator wird zu einem nationalen Symbol, zum Vorbild eines tapferen Deutschen.
Atmo:
Glockengeläut
Sprecher:
In der Stadtkirche zu Wittenberg präsentiert sich Luther. Der Maler Lucas Cranach half ihm dabei. Wir begegnen einem etwas eitlen, selbstbewussten Mann, der sich keineswegs scheut, im Rampenlicht zu stehen. Schlichter Protestantismus sieht anders aus. Der Kunsthistoriker Timo Trümper kennt viele Luther-Porträts. Einige von ihnen gehören zu der Sammlung, die er im Herzoglichen Museum in Gotha betreut.
Take 7: (Timo Trümper)
„Der hohe Widererkennungsgrad, gerade bei den Martin-Luther-Porträts, die natürlich die natürlich auch im Sinne der Verbreitung der Reformation in Auftrag gegeben worden sind, das ist etwas Besonderes bei Cranach, und er hat ein realistisches Bild des Reformators geschaffen, was bis heute Bestand hat.“
Sprecher:
Nicht nur Luther selbst wurde gemalt, es entstanden auch Lehrbilder, die die Neuerungen des Luthertums – wie das überaus wichtige Gnadenthema – in den Vordergrund rückten. Für Heinz Schilling sind diese Bilder ein substanzieller Teil der Reformation.
Take 8: (Heinz Schilling)
„Cranach hat in enger Abstimmung mit Melanchthon, aber auch mit Luther, eine spezifische protestantische Bildlichkeit, eine Bildtheologie geschaffen. Schon in der Bebilderung der Luther-Bibel, aber auch darüber hinaus – die großen Altäre in Weimar und in Wittenberg –, so dass es richtig ist, dass wir Luther durch die Brille von seinem Freund Cranach sehen. Aber eben auch, dass Cranach in seiner Bildgestaltung eine eigene theologische Bildsprache und einen eigenen Anteil an der Reformation gehabt hat.“
Sprecher:
Luther wollte für seinen Glauben einprägsame Bilder haben. Von allzu wortgläubigen Bilderstürmern hielt er nicht viel. Im Dezember 1521 ist er von der Wartburg nach Wittenberg geeilt, um das Schlimmste zu verhindern, als die Altäre der Stadtkirche gefährdet waren. Eiferer wollten sie vernichten, weil für sie nur noch Gottes Wort gelten sollte. Es ist ein Konflikt, sagt Jochen Birkenmeier, Leiter des Lutherhauses in Eisenach, den es bei Protestanten bis heute gibt.
Take 9: (Jochen Birkenmeier)
„Das Wort spielt natürlich in der evangelischen Kirche eine ganz große Rolle. Darum ging es ja auch Luther, das Wort Gottes wieder hören zu lassen, in einer unverfälschten Form. Und das hat sich dann manchmal auch ein bisschen gesteigert zu einer Wortgläubigkeit, die dann wiederum auch unangemessen ist. Denn sagen wir mal, mit der evangelikalen Strömung von heute hat das wenig zu tun, die eine Unfehlbarkeit der Schrift insofern annehmen und glauben, dass das Wort Gottes direkt von Gott diktiert worden ist. Das hat auch schon Luther und die damaligen Zeiten nicht angenommen, sondern man ist immer davon ausgegangen, dass es eben inspiriertes Wort ist, das aber eben auch gedeutet werden muss.“
Musikakzent
Sprecher:
1504 wurde Lucas Cranach der Ältere Hofmaler in Wittenberg. Er befreundete sich mit Luther, wurde auch Trauzeuge und Patenonkel. Cranach hatte die größte Malerwerkstatt diesseits der Alpen und er hatte das Monopol auf gemalte Lutherbilder.
Atmo:
Wartburg Treppenhaus
Sprecher:
Im Sommer 2015 waren auf der Wartburg 100 Luther-Porträts zu sehen. Oberburghauptmann Günter Schuchardt ist Chef der Burg. Er hat die Ausstellung auf den Weg gebracht.
Take 10: (Günter Schuchardt)
„Wir kennen sieben Porträt-Typen, eben von diesem Mönch des Jahres 1520 bis hin zum Totenbildnis Luthers. Der so genannte große Luther, das ist schon ein behäbiger, eher fülliger Mann, mit einem fast übergroßen Doktorhut. Er war anerkannt in seinen Schriften, also musste man ein Portrait zeigen, einen kräftigen, wohllebenden Mann, der sich seiner Sache ziemlich sicher ist. war. Ich glaube nicht, dass er innerhalb eines Jahres von diesem wirklich ganz schmalen, asketischen Mönch zu so einer kräftigen Figur gefunden hat. Das ist schon auch eine Inszenierung, man hat ihn stärker dargestellt, als er es vielleicht in Leibesfülle in Wirklichkeit war.“
Atmo:
Ausstellungsbesucher
Sprecher:
Es gibt Luther als kleinen Mönch, Luther als Junker Jörg auf der Wartburg, es gibt die Ehebilder, Luther mit Doktorhut, Luther als Prediger und Luther auf dem Totenbett. Im Laufe der Jahrhunderte gerieten die Cranach-Bilder zunächst in Vergessenheit. Erst im 19. Jahrhundert wurden sie wiederentdeckt.
Wenn wir heute an Luther denken, haben wir Cranach im Kopf, sagt der Luther-Biograf Heinz Schilling und zitiert eine britische Kollegin, die das Lutherbild, das auf Cranach zurückgeht, ziemlich drastisch kommentiert.
Take 11: (Heinz Schilling)
„Wie Frau Roper ohne Respekt sagt, aber richtig: ‚the fat doctor Luther‘. Wie er dann, ich würde es nicht fett nennen, aber wie ein ‚Rocher de bronze‘ da steht, als kräftiger Mann, der mitten im Leben steht und die Reformation vertritt und den Protestantismus – auch über seinen Tod hinaus – schützt.“
Sprecher:
2012 hat Lyndel Roper ihr Luther-Buch geschrieben. Auf Deutsch trägt es den Titel: „Der feiste Doktor“. Sie schreibt, Luther präsentiere ein ganz neues Körperbewusstsein. Das sei auch auf dem Wittenberger Marktplatz zu sehen, wo Denkmäler an Martin Luther und Philipp Melanchthon erinnern.
Zitatorin:
„Die beiden Reformatoren überragen die Marktstände mit Fleisch und Gemüse wie zwei in Käfige gesperrte Riesen. Doch die Wirkung des Anblicks, wie sie da Seite an Seite stehen, ist verheerend: Der beleibte Luther gegenüber dem ausgemergelten Melanchthon. Auf den zeitgenössischen Porträts von Heinrich Aldegrever und aus der Werkstatt Cranachs ist es noch schlimmer: Luther und Melanchthon bilden ein Pärchen wie Laurel und Hardy.“
Sprecher:
Traditionell wurden Heilige eher mager dargestellt. Das unterstreicht ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Fleischeslust. Luther dagegen ist breit und füllig. Ein lebensfroher Zeitgenosse, der gern trinkt, gut isst und auch beim Sex kein Kostverächter ist. Auf diese Weise ist der Professor volkstümlich: Er ist einer von uns.
Jahr für Jahr pilgern 330 Millionen Menschen zu religiösen Orten, sechs Millionen Pilger kommen nach Lourdes, vier Millionen nach Tschenstochau und eine Million nach Altötting. Allesamt katholische Wallfahrtsorte.
Die Lutherstadt Wittenberg ist ein Freilichtmuseum. Ein protestantisches Rom. Doch es gibt keine offiziellen Pilgerwege zum „Heiligen Martin“. Stattdessen gibt es breit angelegte Touristenpfade, die von einem Lutherort zum nächsten führen. Wer sich umschaut, staunt: Es gibt auch einen Luther der Bundesländer, einen für Sachsen-Anhalt und einen für den Freistaat Thüringen. Mehrere Bundesländer in Ostdeutschland haben eigene Luther-Kampagnen vor dem großen Reformationsjubiläum 2017 gestartet. Ob in Mansfeld, Eisleben oder Eisenach, überall trifft man auf Luther, dessen Lebensweg touristisch und pädagogisch verwaltet wird.
Zitatorin:
„Wandeln Sie auf den Spuren Luthers und besichtigen Sie mit einem Audio-Guide die Wirkungsstätten des großen Reformators.
2 Übernachtungen inklusive Frühstück
1 x Leihgebühr Audio-Guide
1 x Stadtführer & Biografie Luther pro Zimmer
1 x Eintritt Lutherhaus
1 x Besichtigung Stadtkirche
Sprecher:
Das kostet 115 Euro pro Person im Doppelzimmer. Im Kernland der Reformation entstehen immer mehr Luther-Museen. Oft sind es Orte aus dem 19. Jahrhundert, die nun, im Vorfeld von „500 Jahre Reformation“ neu gestaltet werden.
Mansfeld liegt eine halbe Stunde westlich von Halle. Zu Luthers Zeiten ein wohlhabender Ort, der vom Bergbau lebte. Heute herrscht Tristesse pur. Die DDR steckt noch in jeder Gasse.
Take 12: (Andreas Hain)
„Ja, mit Luther wird hier viel in Verbindung gebracht. Man hört es ja immer öfter im Radio und Fernsehen. Och nee, nee. Man hört‘s und sieht‘s, ja okay, aber ja, ja, man kommt zurecht.“
Sprecher:
Andreas Hain ist Mitte 50. Er steht auf der Lutherstraße vor dem Rathaus und erzählt von seinem Mansfelder Leben. Das hat mit Luther nichts zu tun.
Stefan Rhein, Hausherr des Lutherhauses in Mansfeld, blickt lieber in die Geschichte, denn in Mansfeld hat Luther seine Kindheit und Jugend verbracht.
Take 13: (Stefan Rhein)
„Hier in Mansfeld kommt man dem kleinen Martin Luther, dem Schüler, dem Jugendlichen, dem Kind ganz nahe. Wir können fast den Speiseplan der Familie Luther darstellen, Süßfische, welche Getreidesorten man gegessen hat, ja, wir können sogar dem spielenden Kind zuschauen, denn wir haben das Kinderspielzeug in einer Abfallgrube gefunden.“
Atmo:
Pflasterer Baulärm
Sprecher:
Seit 2010 wurde das Wohnhaus saniert. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es einen Ergänzungsbau, ein neues Museum mit schönem Innenhof und Veranstaltungsräumen. Mit seiner grau geschlämmten Plattenbau-Fassade fällt es zwischen den maroden und sanierungsbedürftigen Nachbarhäusern gar nicht sonderlich auf. Innen offenbart das Museum seine Qualitäten. Eine geschickt gruppierte Raumfolge findet sich unter einer abwechslungsreichen Dachlandschaft. Gut 200 Exponate werden gezeigt, auch viele archäologische Funde, die bei der Sanierung von Luthers Elternhaus ans Tageslicht kamen.
Atmo:
Pressekonferenz
Sprecher:
Ohne die Abfallgrube würde es kein neues Museum geben. Man fand Essensreste, Spielzeug und eine wertvolle Gürtelschnalle. Die Familie aß Singvögel und besaß teure Kleider. Jetzt werden die archäologischen Funde wie kostbare Reliquien ausgestellt. Eine Tatsache, die den Kurator Christian Philipsen etwas in Verlegenheit bringt.
Take 14: (Christian Philipsen)
„Man könnte es noch stärker machen. Man könnte jetzt sagen, das hatte Luther jetzt hier in der Hand, soweit gehen wir nicht, dann wäre es wirklich eine Berührungsreliquie. Das sind einfach Dinge aus dem Umfeld der Familie, aber natürlich: Unsere Besucher interessiert vor allem die Person Luther.“
Atmo:
Eingangshalle Museum
Sprecher:
Im Foyer des neuen Museums steht Bürgermeister Gustav Voigt. Während der Bürgermeister auf Touristen hofft, ist Charlotte Torger
auch so zufrieden. Sie hat es sich am geöffneten Fenster ihrer Parterrewohnung gemütlich gemacht. Die über 90-Jährige blickt auf einen menschenleeren Platz mit dem Lutherbrunnen von 1913. Er hat drei Bildreliefs, die sich auf Luthers Leben beziehen
Musik:
Marschmusik, nur sehr kurz
Zitator:
„Hinaus in die Welt
Hinein in den Kampf
Hindurch zum Sieg“
Take 15: (Charlotte Torger)
„Gucken Sie mal, wir haben keine Geschäfte hier, wir sind nur alte Leute. Wir können kein Auto mehr fahren. Wir haben den Rollator, aber sonst bin ich mit meinem Mansfeld zufrieden. Na ja, Luther, gucken Sie mal, ich bin geborene Wittenbergerin, und Wittenberg ist Lutherstadt. Mansfeld hier, ja, Mansfeld passt sich jetzt schon an, die passen sich an. Die passen sich an. Musik“
Sprecher:
Mansfeld will in Sachsen-Anhalt die dritte Säule des Luthergedenkens sein. Doch die Konkurrenz schläft nicht. In ganz Mitteldeutschland wird renoviert und gebaut, um den Reformator ins Museum zu bringen.
Auch die Nachbarstadt Eisleben wünscht sich mehr Touristen. Schließlich ist Luther hier geboren, und wie es der Zufall so will, ist er auch hier gestorben. An Tod und Geburt des Reformators erinnern zwei Museen: Luthers Geburts- und Luthers Sterbehaus.
An Wladimir Iljitsch Lenin erinnert in Eisleben zurzeit keiner mehr.
Musik:
H. Eisler: Wer rührte an dem Schlaf der Welt
Sprecher:
Bis zur Wende stand Lenin auf einem Sockel. Die Bronze wurde 1929 in Puschkin aufgestellt, einer Stadt südlich von Sankt Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. 1943 wurde das Denkmal von deutschen Truppen als Kriegsbeute nach Eisleben gebracht, um eingeschmolzen zu werden.
Musik noch einmal lauter
Sprecher:
Einige sagen, der Lenin sei von tapferen Kommunisten gerettet worden, andere behaupten, die Bronze war für den Schmelzofen einfach zu groß. Jedenfalls wurde sie nach dem Krieg zur Begrüßung der Roten Armee aufgestellt. 1991 kam Lenin als Leihgabe des Eislebener Stadtrats in das Deutsche Historische Museum nach Berlin.
In Eisleben ist Lenin wieder weg. Martin Luther ist standhaft bis heute. Sein Denkmal wurde 1883 zum 400. Geburtstag auf dem Markplatz aufgestellt.
Im Januar 1546 fuhr Luther nach Eisleben. Er wollte Erbstreitigkeiten der Mansfelder Grafen schlichten. In seiner Unterkunft am Markt bekam er eine Herzattacke, die tödlich enden sollte. Als Luther am 18. Februar starb, meldeten die Katholiken, der Reformator sei geradewegs zur Hölle gefahren. Für sie war Luther ein geschwätziger Ketzer, ein entlaufener Mönch, der die Gelübde gebrochen hatte. Schon ein Jahr zuvor, erzählt Günter Schuchardt, Oberburghauptmann der Wartburg, hatten sie dem Reformator übel mitgespielt.
Take 16: (Günter Schuchardt)
„Luther war sehr erbost, man hatte 1545 in Rom ein Gerücht verbreitet, da wurde behauptet, Luther sei bereits gestorben, und man habe ihn ins Grab gelegt, in der Nacht hätte es Geräusche aus dem Grab gegeben. Man hätte dann am nächsten Morgen das Grab wieder geöffnet, und es sei niemand drin gelegen, aber es hätte fürchterlich nach Schwefel gestunken. Und das kommt Luther zu Ohren, und er verfasst sofort eine, ja eine Wutschrift, würde man heute sagen, um eben den Nachweis anzutreten, dass er freilich noch am Leben ist.“
Sprecher:
Als Luther dann wirklich gestorben war, hat ihn Lucas Cranach auf dem Sterbebett gemalt.
Take 17: (Günter Schuchardt)
„Dann konnte es nicht anders sein, als zu sagen: Jetzt brauchen wir ein Porträt des gestorbenen Luther, um zu zeigen, dass er auch ohne Sakramente eben in Frieden heimgegangen ist. Und nichts anderes sollten diese Bilder beweisen und bekräftigen.“
Sprecher:
Luthers Totenbilder sind ein Manifest des protestantischen Glaubens. Sie sollen belegen, sagt Stefan Rhein, dass der Reformator friedlich, im Angesicht des Herrn, gestorben war.
Take 18: (Stefan Rhein)
„Als Luther starb, stirbt nicht einfach nur ein Mensch, sondern das war ein Politikum. Schon eine Stunde nach seinem Tod wird der erste Bericht über sein Sterben geschrieben, der darstellt, wie friedlich, wie auch im Vertrauen auf Gott, Luther gestorben ist.“
Sprecher:
Nach Luthers Tod wurde sein Sterbehaus zur Pilgerstätte. Die Leute kamen scharenweise, um den „Heiligen Martin“ zu ehren. Der protestantische Glauben steckte noch in den Kinderschuhen. Die Christen waren es gewohnt, Schutz und Trost bei Heiligen zu suchen. In Eisleben rissen sie Holzsplitter aus Luthers Totenbett, es hieß, sie seien gut gegen Zahnschmerzen.
Musikakzent:
Sprecher:
„Luthers letzter Weg“ heißt die neu gestaltete Dauerausstellung in Luthers Sterbehaus, das 100 Meter entfernt von dem tatsächlichen Sterbehaus liegt, das es heute nicht mehr gibt. Wie in Eisenach musste man sich auch hier mangels echter Lutherscher Erinnerungsstücke behelfen.
Take 19: (Stefan Rhein)
„Man hat einen Nürnberger Kunstprofessor geholt, Herrn Wanderer, der auf der Grundlage der Sterbeberichte die Räume entsprechend inszeniert hat. Also man hat die historische Quelle des Jahres 1546 genommen und in ein tatsächlich auch spätmittelalterliches Häuschen diese Räume so zugerichtet, dass sie passen.“
Sprecher:
Friedrich Wilhelm Wanderer war ein ausgewiesener Profi. Schon 1876 hatte er in Nürnberg zwei Wohnräume im Albrecht-Dürer-Haus im Geiste des Mittelalters nachgebaut und die Historie durch muntere Phantasie ersetzt. In Eisleben war es wieder so: Große Bühne, großes Theater. Aber schon 1907 wurde das Sterbehaus wieder entrümpelt. Der überbordende Historismus war schon den damaligen Zeitgenossen zu viel.
2012 wurden Schlafkammer und Sterbezimmer wieder in den Zustand von 1907 versetzt. Jetzt wird hier an das Erinnern erinnert. Die Besucher sind umgeben von neogotischem Inventar. In einem massiven Holzschrein liegt das Tuch, das über Luther Sarg gebreitet war.
Take 20: (Jochen Birkenmeier)
„Wir wollen nicht versuchen, irgendwas zu historisieren. Wir stellen zwar die Inszenierung des 19. Jahrhunderts wieder dar, aber wir bleiben in unserem Jahrhundert, in unserer Zeit, auch in unserer Ästhetik. Wir wollen ja eine Ausstellung für heute machen und auch für Menschen, die etwas jünger sind, die vielleicht mit Luther gar nicht so viel zu tun haben, damit die auch animiert sind, sich mal mit dem Thema zu beschäftigen.“
Atmo:
Installation Luther Sterbehaus
Sprecher:
Die Besucher sollen über ihren eigenen Tod nachdenken, und sie sollen den protestantischen Tod verstehen. Luther hat ja in gewisser Weise das Sterben neu erfunden. Er hat gezeigt, wie Protestanten auch ohne die Heiligen Sakramente gottgefällig sterben können.
Für Luther-Biograf Horst Schilling sind das allgemeine zentrale Fragen, zumal auch Nichtchristen sterblich sind. Aber mit der Präsentation ist er nicht vollends zufrieden.
Take 21: (Heinz Schilling)
„Im Sterbehaus, da ist mir schon zu viel szientistisch dargestellt, insbesondere in dem Betonanbau, da will man ja das Sterben thematisieren, da ist mir zu viel, ich hätte fast gesagt Intensivstation des 21. Jahrhunderts. Man will auch dann die Sterbetheologie Luthers rüberbringen, ob das gelungen ist, will ich so nicht beurteilen.“
Take 22:
„Musik - Eine Installation über die vier letzten Dinge: der eigene Tod, das Jüngste Gericht, Himmel und Hölle …“
Sprecher:
Die Ausstellung erinnert nicht nur an Gott, sondern auch an den Teufel. Ein Christkind aus Lindenholz steht einem geschnitzten Teufel gegenüber. Christus und der Teufel kämpfen miteinander. Luther kämpft an der Seite von Jesus Christus, auf der Seite des Teufels stehen der Papst, die Türken und die Juden, alles Agenten des Bösen, die gegen die wahre christliche Lehre zu Felde ziehen.
Am 10. November 1483 wurde Luther geboren. Einen Tag später wurde er in der Petri-Pauli-Kirche getauft. Es musste schnell gehen, denn man hatte Angst, der Teufel könne die Seele des Kindes rauben.
Atmo:
Mittagsgeläut der Petri-Pauli-Kirche
Sprecher:
Das Glockengeläut ist alt, schon Martin Luther hat es hören können. Aber Luther wurde in dem Vorgängerbau getauft; der Grundstein für das heutige Gotteshaus wurde 1486 gelegt. Heute hat Eisleben 1000 Gemeindemitglieder und drei stattliche Gotteshäuser. Da muss Luthers Taufkirche sehen, wo sie bleibt, sagt Pfarrerin Simone Carstens-Kant. Und so hilft auch hier eine Inszenierung.
Take 23: (Simone Carstens-Kant)
„Wir brauchen eine Themenbestimmung für unsere Kirche, und da Martin Luther in dem Vorgängerbau dieser Kirche getauft wurde, hat man gesagt, warum nehmen wir eigentlich das nicht als Thema und gruppieren die ganze Kirche um dieses Thema. Und dann war relativ schnell auch die Idee geboren, nicht mehr dieses ganz klassische kleine Taufbecken nur als einzigen Taufort zu nehmen, sondern zu sagen: Hier in dieser Petri-Pauli-Kirche wird ein Ganzkörpertaufbecken gebaut.“
Sprecher:
Im April 2012 wurde das „Zentrum Taufe“ eröffnet. Ein großes Taufbecken, zwei Meter im Durchmesser und 70 Zentimeter tief, dominiert den Kirchenraum. Es gibt eine ausfahrbare Treppe, und die Sakristei bekam eine Umkleidekabine. Luthers Taufstein steht etwas verloren am Rand.
Nicht jeder ist zufrieden. „Wir sind hier nicht am Jordan“ schimpften empörte Gemeindemitglieder. Pfarrerin Simone Carstens-Kant irritiert das nicht. Ihr gefällt, dass sich die Menschen in ihrer Kirche über das Sakrament der Taufe Gedanken machen.
Take 24: (Simone Carstens-Kant)
„Wir suchen ganz bewusst nach Angeboten für Leute, die danach fragen, das sind einerseits diejenigen, die auf den Spuren Martin Luthers wandern und sagen: Ah, da ist die Taufkirche, da möchte ich gerne auch rein, und das sind auf der anderen Seite aber eben auch Leute, gerade hier in diesem Bereich, die von Kirche über Jahrzehnte nichts mehr gehört haben, und da wollen wir auch Angebote machen, dass die sagen, ich will da hingehen, und da muss ich mich nicht sofort taufen lassen, ich muss nicht sofort ein Bekenntnis sprechen, aber ich bin da willkommen.“
Sprecher:
Endlich mal kein Museum, sondern ein spiritueller Ort, der zu den Wurzeln des christlichen Glaubens führt. Spontan summt Simone Carstens-Kant ein zeitgenössisches Kirchenlied, das ihr besonders gefällt.
Zitatorin:
„Du hast mich, Herr, zu dir gerufen, und in der Taufe bekenn ich dich.“
Atmo:
Kirchenlied
Musikakzent:
Kirchenlied geht über in Play Bach
Sprecher:
Auf dem Wormser Reichstag 1521 wurde Luther von Kaiser Karl V. für vogelfrei erklärt, und jeder der wollte, hätte ihn dann straffrei töten können. Als Luther am 4. Mai 1521 Worms verließ, bekam er für drei Wochen freies Geleit. Auf der Reise nach Wittenberg wurde er entführt und auf die Wartburg gebracht. Es war eine inszenierte Aktion, denn der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise wollte Luther schützen.
Auf der Wartburg war Luther vor äußeren Feinden sicher. Der innere Feind war aber mitgekommen. Der Teufel setzte Luther zu und trieb bösen Schabernack, wie Oberburghauptmann Günter Schuchardt zu berichten weiß.
Take 25: (Günter Schuchardt)
„Luther hat sich gefürchtet. Er hatte Todesangst. Er hat immer gefürchtet, dass es den gerechten Gott nicht finden wird. Und er war ja auch immer wieder gesundheitlich angeschlagen, hat das auch damit in Verbindung gebracht, dass ihn der Teufel oder böse Mächte, dann auch wirklich an Leib und Seele wollen. Er hat an Hexen geglaubt. Er hat an den Teufel geglaubt. Er hat Haselnüsse hinter den Ofen geworfen, ihm ist der Teufel als Hund erschienen, den er aus dem Fenster geworfen habe, und solche Dinge. Er ist ja dem Mittelalter noch stark verwurzelt. Das einzige, woran er nicht geglaubt hat, war die Vorhölle.“
Sprecher:
Die Legende besagt, dass Luther aus Wut den lästigen Satan mit einem Tintenfass bewarf. Der Tintenfleck neben dem Kamin musste im Laufe der Zeit oft erneuert werden, weil ihn Besucher ständig von der Wand kratzten. 1650 taucht der Tintenfleck erstmals auf, und die Mär hält sich hartnäckig über 200 Jahre.
Take 26: (Carola Haberkorn)
„Ja, da kommen Sie vergebens, 120 Jahre zu spät, 1894 gab es den letzen Tintenfleck, seit 1896 gibt es Fotos, und auf diesen Fotos ist schon kein Tintenfleck zu sehen.“
Sprecher:
Carola Haberkorn bewacht die Lutherstube. Sie arbeitet seit 25 Jahren auf der Wartburg.
Take 27: (Günter Schuchardt)
„Das Interessante ist, das ist also bis heute auch noch, das ist mir passiert, wenn ich eine Führung hier durchs Haus unternehme, dass mich Gäste ansprechen und sagen: ‚Ich war als Kind hier und hab den Tintenfleck gesehen‘. Und dann muss ich ihnen sagen: ‚Tut mir Leid, da haben Sie sich aber sehr gut gehalten, weil spätestens so um 1850 hat es den Tintenfleck nicht mehr gegeben‘.“
Sprecher:
Günter Schuchardt kennt die Fakten. Doch das ist der Erinnerung manchmal egal. In der Lutherstube stehen die Besucher vor holzvertäfelten Wänden, einem monströsen Schreibtisch und einem passenden Lehnstuhl, auf dem Luther nie gesessen hat.
Musikakzent:
Sprecher:
Die Gedenkstätten an Originalschauplätzen haben ihren Ursprung in der Goethe-Zeit. Als Schiller verstorben war, richtete der Geheimrat seinem Freund Schiller in dessen Jenaer Gartenhaus eine Gedenkstätte ein. Es gab ein paar Möbelstücke, eine Schillerbüste und einige Textfragmente. Die Art des Gedenkens, bestätigt Jochen Birkenmeier, wurde zu einem oft kopierten Vorbild.
Take 28: (Jochen Birkenmeier)
„Diese Gedenkstätten und diese Gedenkräume sind tatsächlich eher mit dem Geniekult entstanden, der so Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen hat. Da hat man tatsächlich versucht, eine Aura zu inszenieren, indem man Büsten reingestellt hat, Bildnisse, Möbelstücke, Originale, manchmal auch Locken.“
Sprecher:
Auch die Lutherstube hat alle Insignien dieser Gedenkkultur: Die Kopie eines Cranach-Gemäldes: Luther als Junker Jörg. Das September-Testament, ein Faksimile der Bibelübersetzung von 1522 und ein paar Möbel: ein wuchtiger Kastentisch und ein rheinischer Stollenschrank von 1530. Es sind Möbel, die Luther nie benutzt hat. Nur der Wahlwirbel auf dem Boden ist echt. Das kuriose Stück hat Luther wirklich als Fußbank benutzt.
Atmo:
Treppe Wartburg
Sprecher:
Unten in der Stadt gehen die Besuchergruppen achtlos am Bebelhaus vorbei. Es ist in einem bejammernswerten Zustand. Hier wurde 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet – ein Meilenstein auf dem Weg zur SPD. Ganz anders ein paar Schritte weiter. Hier steht das Lutherhaus: Hier wird gerade renoviert und neu gebaut. Es entsteht ein barrierefreies Treppenhaus und neue Ausstellungsflächen. Das Lutherhaus gehört der Thüringischen Landeskirche, die das Gebäude zu DDR-Zeiten erworben hat.
Ursprünglich gehörte es einer Familie Cotta. Es gibt die Vermutung, dass Luther zwischen 1498 und 1501 dort gewohnt haben könnte, während er in Eisenach zur Schule ging. Auch Hausherr Jochen Birkenmeier kann nur spekulieren. Auf jeden Fall ist es ein Fachwerkhaus aus dem 14. Jahrhundert. Die Balken in der sogenannten Lutherstube stammen von 1269. Ende des 19. Jahrhundert hat man sich an die Geschichte erinnert. 1898 wurde im Lutherhaus der Lutherkeller eröffnet.
Take 29: (Jochen Birkenmeier)
„Das war tatsächlich ein Themenrestaurant, ein altdeutsches Restaurant mit vielen reformationsgeschichtlichen Erinnerungsstücken, und zu dem besonderen Service des Hauses gehörte es eben auch, dass man noch eine Etage höher gehen konnte, wo einem dann die Geschichte dieses Hauses erzählt wurde, und die Besucher dann die Möglichkeit hatten, in diese Lutherstube hineinzugehen und hineinzuschauen.“
Sprecher:
Jochen Birkenmeier erzählt, wie schon um 1900 Glaube und Kommerz zusammenfanden.
Take 30: (Jochen Birkenmeier)
„Der damalige Gastwirt ist zu Antiquitätenhändlern gegangen und hat sich Möbelstücke aus dem 16. Jahrhundert geholt und hat das Zimmer ausgestattet mit Büchern aus dem 16. Jahrhundert, mit Möbeln, mit Andenken aus dieser Zeit, von denen wir heute wissen, dass sie auch aus späterer Zeit stammen, aber um so einen Ort – sagen wir mal – des Gedenkens zu schaffen, der tatsächlich diese Aura verströmt, den eben ein leerer Raum nicht haben kann. Und damals hatte das tatsächlich insofern schon Erfolg, als dass Besucher aus Europa und Amerika schon Mitte des 19. Jahrhunderts hier her gekommen sind, um sich diesen Ort auch anzuschauen.“
Sprecher:
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Haus erneut Gaststätte, bis der Eigentümer mit seiner Familie in den Westen ging, weil er für sich und seinen Lutherkeller keine Zukunft mehr sah. 1956 hat die Landeskirche das Gebäude gekauft, seitdem ist es Museum und war bis vor kurzem Heimat des Evangelischen Pfarrhausarchivs, das jetzt in neue Räume gezogen ist.
Musik:
Marschmusik
Sprecher:
Als deutsche Soldaten in den Ersten Weltkrieg zogen, geschah das mit dem Segen der protestantischen Kirche. 1918 kamen die Überlebenden von den Schlachtfeldern zurück. Die Kirche hatte sich politisch verrannt und stand mit leeren Händen da. Es kam zu massenhaften Kirchenaustritten, zwischen 1918 und 1930 waren es bis zu 250.000 im Jahr.
Die moralische Integrität des Protestantismus hatte einen Knacks bekommen. Das neu gegründete Pfarrhausarchiv sollte gegensteuern. Man wollte der Bevölkerung zeigen: Schaut her, es ist nicht nur Negatives aus dem Pfarrhaus gekommen, sondern auch sehr viel Gutes.
2015 ist das Eisenacher Pfarrhausarchiv in neue Räume gezogen. Nach der Sanierung und Erweiterung wird das Lutherhaus nur noch museal genutzt, dann ist dort eine neu konzipierte Ausstellung zu sehen, die sich Luther und der Bibel widmet. Schließlich begann Luther als Junker Jörg oben auf der Burg mit seiner Bibelübersetzung.
Take 31: (Jochen Birkenmeier)
„Wir wollen mit der Ausstellung auch mit so ein paar Mythen aufräumen, dass also Luther nicht der erste gewesen ist, der die Bibel überhaupt ins Deutsche übersetzte. Es gab vor ihm auch schon Übersetzungen. Es gab auch Parallelübersetzungen, wie von Zwingli zum Beispiel. Wir wollen auch zeigen, dass er die Bibel nicht alleine übersetzt hat. Er hat es auch nicht aus eigenem Antrieb gemacht, das war Melanchthon, der ihn darauf gebracht hat und der ihn auch mit seinen Griechischkenntnissen unterstützt hat. Und er hat ja später für die Gesamtbibel ein ganzes Übersetzerteam gehabt. Das heißt, da hat man zusammengesessen, hat die Sachen wissenschaftlich erarbeitet, hat die diskutiert. Und es war Luther, der dann zum Schluss die Entscheidungen getroffen hat und den sprachlich letzten Schliff gegeben hat.“
Sprecher:
1534 lag die vollständige Luther-Bibel vor. Auch die kulturelle Bedeutung der Übersetzung wird im Lutherhaus thematisiert: ihr Einfluss auf die Sprache, ihre Bedeutung für die Literatur und für die Musik. Das Fazit ist: Wir alle sprechen und denken in Luthers Sprache.
Musikakzent:
Sprecher:
Gottes Wort spielt für Protestanten die zentrale Rolle. In den Texten der Heiligen Schrift offenbart sich ein gütiger Gott, der Trost und Gnade schenkt. Das, sagt Luther-Biograf Heinz Schilling, berührt den Kern des protestantischen Glaubens.
Take 32: (Heinz Schilling)
„Da ist ein wunderschönes Beispiel, ein Beleg im Tagebuch von Albrecht Dürer, der sagt, mit dieser Vorstellung, dass ich nur an die Gnade Gottes gebunden bin und alles andere nebensächlich ist, damit hat er mir tiefe existenzielle Ängste genommen.“
Sprecher:
Wer sich auf die Spur des Reformators begibt, landet auf einem umfangreichen Bildungs-Parcours. An vielen Stationen werden alle Aspekte seines Lebens ausgeleuchtet und erzählt. Ein scheinbar gläserner Luther, so ganz ohne Geheimnis.
Atmo:
Besucher Ausstellung Mansfeld
Sprecher:
Es gibt viel zu lernen: biografische Details, historische Fakten, theologische Überzeugungen. Ob in Mansfeld, Eisenach oder Wittenberg – überall wird Luthers Leben aus der Sicht von heute präsentiert. Auch historische Verirrungen und Sackgassen Luthers finden ihren Platz und werden zu mehr oder weniger peinlichen Nebenschauplätzen. Wird Luther dem Zeitgeist geopfert? Heinz Schilling sieht ein Problem.
Take 33: (Heinz Schilling)
„Die Luther-Rezeption über 500 Jahre war doch eher dadurch gekennzeichnet, dass man immer den Luther, den man sich selbst backen wollte, in den Vordergrund gestellt hat. Also immer die aktuellen Gegenwartsfragen an Luther gestellt hat, und sie dann selbst so beantwortet hat, wie man das für die Zeit brauchte.“
Musik 5:
Der
Gott, der Eisen wachsen ließ,
der wollte keine Knechte,
drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
dem Mann in seine Rechte;
drum gab er ihm den kühnen Mut,
den Zorn der freien Rede,
dass er bestände bis aufs Blut,
bis in den Tod die Fehde.
Sprecher:
Luthers Antisemitismus wird mit dem herrschenden Zeitgeist erklärt. Vorbei und vergessen? Aber der Zeitgeist ist ein launischer Kantonist. Im Dritten Reich waren die Verhältnisse so, dass sich auch die bösartigsten Judenfeinde auf Luther beriefen. Wie viele Luther haben wir? Den Cranach-Luther, den Gründerzeit-Luther, den Nazi-Luther oder den Touristen-Luther? Und welchen Luther wollen wir 2017 feiern, wenn sich der Thesenanschlag zu Wittenberg zum 500. Mal jährt?
Wenn es um Glaubensfragen ging, war Luther Fundamentalist. Der Weg Andersgläubige ohne Dünkel zu respektieren, ist lang und steinig. Dass das Christentum diesen Weg gegangen ist, könnte bei der Beurteilung anderer Religionen, die diesen Weg noch gehen müssen, hilfreich sein.
Atmo:
Singen Imam
Take 34: (Heinz Schilling)
„Man käme mit den Problemen des Islams durchaus weiter, wenn auch Politiker sich mal dafür interessieren würden, in welcher Weise in Europa der Geschichtsprozess verlaufen ist. Dann wird deutlich, dass wir solch eine fundamentalistische Verschränkung politischer Interessen und religiöser Interessen, wie wir es jetzt im Islam haben, durchaus in Europa hatten, und dann können wir sehr bescheiden werden und sagen, ja das hatten wir auch mal: Diese Gewalt, auch diese Morde, auch dieses ist in Europa geschehen, wenn sie etwa in Frankreich diese furchtbaren Hugenottenkämpfe sehen, aber auch in Deutschland gibt es diese Fälle. Aber wir sehen auch, in welcher Weise Europa aus dieser teuflischen Verschränkung herausgekommen ist, nämlich über das Recht – im Westfälischen Frieden gesetzt – und über das Akzeptieren der Wahrheit des Anderen.“
Sprecher:
Martin Luther wollte die katholische Kirche reformieren und ist damit gescheitert.
Take 35: (Heinz Schilling)
„Luther wollte die allgemeine Reform der Kirche, und er bekam die protestantische Landeskirche. Mit allen Problemen, die wir heute noch sehen, die aber insbesondere stark waren im 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert in der Verbindung von Thron und Altar. Das wollte Luther nicht. Und das als Irrweg des Luthertums darzustellen, wie man es heute auch allgemein sieht, dazu ist es eben wichtig, den fremden Luther, den Luther in seiner Zeit darzustellen.“
Sprecher:
Hegel nennt das die „List der Geschichte“. Luther hat mit seiner Kritik einen Prozess losgetreten, den er weder voraussah noch wollte. Dabei geht es nicht nur um den Protestanten Luther, sondern auch um seine Verdienste für die Zivilgesellschaft. Heute gibt es keine allgemeinverbindliche Religion mehr, heute können wir alle auf ganz unterschiedliche Weise gläubig sein.
Take 36: (Heinz Schilling)
„So sehr Luther darauf bestanden hat, dass seine Wahrheit die einzig richtige ist und dann die tridentinisch-katholische Reform auch darauf bestanden hat, sie sei nur die einzig richtige, und damit ja auch den furchtbaren Religionskrieg befeuert haben, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wir müssen mit unterschiedlichen Wahrheiten leben, und wir müssen den Weg eines Zusammenlebens finden.“
Atmo:
Demo: Le Pen is the terrorist not the Moslem
Sprecher:
Die Reformation ist ein wesentlicher Impuls dieser Entwicklung. Sie hat ein Tor aufgestoßen, wo sich die Toleranz in der europäischen Entwicklung entfalten konnte. Natürlich hat es auch die Renaissance und den Humanismus gegeben, aber den Kern der christlichen Dogmatik zu sprengen, das ist Luthers Verdienst. Von da an war klar: Europa muss mehrere Wahrheiten akzeptieren.
1521 fand der Wormser Reichstag statt, auf dem Martin Luther mutig seine Theologie vertrat. Der Auftritt ist ein Meilenstein in der Geschichte des Protestantismus. Ein kleiner Mönch kämpft mit Worten gegen Papst und Kaiser. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, wird Luther später zitiert.
Musik:
Ein feste Burg ist unser Gott
Sprecher:
1993 wurde das Luther-Denkmal in Worms 125 Jahre alt. Das haben 16 Kommunen – von A wie Augsburg bis Z wie Zeitz – zum Anlass genommen, den ,,Bund der Lutherstädte“ zu gründen. Jede einzelne Stadt hat etwas mit Luther zu tun: In Marburg ist Luther Zwingli begegnet, in Magdeburg ging er zur Schule, in Worm stand er vor dem Reichstag, und in Eisleben ist Luther geboren und gestorben. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.
Musik noch einmal lauter
Sprecher:
Doch diesmal sollte es nicht nur um den historischen Luther gehen. Der „Bund der Lutherstädte“ will auch Menschen ehren, die Zivilcourage zeigen, so wie es der kleine Mönch vor dem Reichstag vorgemacht hat. Nun wird alle zwei Jahre der Preis „Das unerschrockene Wort“ verliehen.
Preiswürdig sind nicht nur Worte, sondern vor allem Taten. Hans Küng hat einmal den Preis bekommen. Auch Liedermacher Stephan Krawczyk wurde geehrt. 2013 stand die russische Punkband Pussy Roit auf der Nominierungsliste, die für ihr regimekritisches Punk-Gebet in der Moskauer Erlöserkirche in ein Lager nach Sibirien kamen. Das bleib umstritten, am Ende bekamen Regensburger Gastwirte den Preis, weil sie sich geweigert hatten, Neonazis Bier auszuschenken. Um die 10.000 Euro Preisgeld gab es dann heftigen Streit, weil die Nazigegner inzwischen untereinander erbitterte Feinde waren. 2015 bekam ein syrischer Rechtanwalt und das Syrische Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit den Preis. Mazen Darwish ist seit 2012 in Damaskus inhaftiert, weil er sich für Menschenrechte und Pressefreiheit engagierte.
Musikakzent:
Sprecher:
Wer war Luther? Was soll 2017 gefeiert werden? Das Jubiläum müsste mehr sein als die despektierliche Vereinnahmung durch Tourismus-Experten oder Zeitgeist-Theologen. 2017 darf keine kirchliche Geburtstagsfeier werden. Luther-Biograf Heinz Schilling sieht die Chance, das deutsche Geschichtsbewusstsein wieder „in eine historische Tiefenschärfe zu bringen“
Take 37: (Heinz Schilling)
„Amerikanische Kollegen haben mir schon vor Jahren gesagt, sie haben Sorge mit Deutschland. Nicht weil sie die Vergangenheit vergessen, sondern weil sie so eine ‚shallow past‘ haben, so eine flache Vergangenheit, die nicht übers 20. Jahrhundert hin zurück geht. Und das verstehe ich so, dass man jetzt die Gelegenheit nimmt, das Ereignis vor 500 Jahren, das eben mitten in Deutschland stattgefunden hat, in seinem allgemein geschichtlichen Kontext, in seinen für Europa bedeutenden und für die Welt bedeutenden Folgen würdigen will, kritisch würdigen will. Nicht als jetzt wieder Luther, der Deutsche, an dem wird die Welt genesen, nein, ganz im Gegenteil: in einer kritischen Würdigung, aber gleichwohl unter Anerkennung dessen, was eben die Welt verändert hat.“
Sprecher:
Auch Jochen Birkenmeiser hat eine klare Vorstellung, wie 2017 an Luther gedacht werden sollte.
Take 38: (Jochen Birkenmeier)
„Wir müssen uns so ein bisschen befreien von den Kenntnissen, die wir gewonnen haben seit den Jahrhunderten, wieder zurück zu kommen, zu fragen, was hat Luther zu seiner Zeit eigentlich gekannt, was hat er gewusst, wo waren seine Möglichkeiten, wo waren seine Grenzen, um wieder zurückzukommen zu Luther, um ihn dann auch gerechter beurteilen zu können.“
Sprecher:
Back to the roots. Noch einmal neu nachdenken. Natürlich geht es 2017 nicht nur um Geschichtsbewusstsein, es geht auch um theologische Fragen. Und auch hier hat Luther-Biograf Heinz Schilling eine klare Position, vor allem was die Ökumene betrifft.
Take 39: (Heinz Schilling)
„Was die christlichen Kirchen so an Unterschieden herausarbeiten, das interessiert 90 Prozent der Menschen nicht, und die sollten 2017 die Gelegenheit nutzen, den Menschen klar zu machen, worum es nicht in der Differenz oder im Streit, sondern worum es in der Gemeinschaft geht. Was da zeitbedingt war, kann ja für uns heute nicht mehr trennend sein und auch in der Zukunft nicht. Das wird geradezu verbaut, wenn man immer nur nach dem fragt, was ist denn an Luther für uns heute.“
Musikakzent:
Sprecher:
Die Reise auf Luthers Spuren zeigt ein wirres, vielfältiges Bild. Eine klare Linie ist nicht zu entdecken, und wenn das Luther-Gedenken mehr als ein kurzlebiges Event sein will, muss es auch um existenzielle Fragen gehen, um Fragen, die uns alle angehen.
Musikakzent:
Sprecher:
Luther wollte ein mutiges Leben, ein Leben ohne Angst. Wer Luther ernst nimmt, muss die neu gewonnene Freiheit verstehen, die er mit seiner Gnadenlehre seinen Zeitgenossen und auch uns Nachgeborenen ermöglicht hat. Eine Revolution. Eine Theologie, die tief berührt, weil sie behauptet, dass am Ende alles gut sein wird.
Sprecher:
Haino Rindler
Olaf Ölstom
Katharina Keller
Regie:
Adolf Stock
Technik:
Martin Eichberg
Redaktion:
Philipp
Gessler