Die Reformation in Estland
In diesem Jahr wird die Reformation 500 Jahre alt und weltweit gefeiert. Estlands Hauptstadt Tallinn und die Universitätsstadt Tartu wurden als einzige Orte im Baltikum in die Liste der 62 Reformationsstätten aufgenommen. Auch wenn die Esten heute weitgehend atheistisch sind – nur noch 11 Prozent der Bevölkerung gehören der Evangelisch-Lutherischen Kirche an – hat das Land dem Protestantismus viel zu verdanken. Diese verschüttete Tradition wird in Estland nun wieder stärker beachtet. Adolf Stock war auf einer Reise mit dem "Deutschen Kulturforum östliches Europa" auf Spurensuche.
Sprecher:
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Estland blickt mit Stolz auf eine lange Tradition, die mit der Reformation begann.
Take 1: (Juhann Kreem)
„Dieses Land Livland im Mittelalter, ungefähr Estland und Lettland zusammen. Es war genau wie Ostpreußen ein mittelalterliches Kolonisationsgebiet. Nur mit dem Unterschied, dass hier diese Lokalbevölkerung, wir haben hier keine deutschen Bauern, ihr altes Gepräge erhalten hat.“
Sprecher:
Juhann Kreem ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stadtarchiv Tallinn. Dort betreut er wertvolle Dokumente aus dem Mittelalter und ist Kenner der Reformationsgeschichte im Baltikum.
Atmo 1:
„Ein bisschen Bewegung. Ja, gehen wir zu unserem Ausstellungssaal, wo ich ein paar Stücke zum Thema noch zeige. – Schritte auf der Treppe …“
Sprecher:
Die Gäste des Deutschen Kulturforums östliches Europa betreten den Ausstellungssaal des Stadtarchivs und frösteln ein wenig. Die Klimaanlage halt die Raumtemperatur bei ca, 10 Grad, denn die wertvollen Schriften vertragen keine Wärme.
Take 2: (Juhann Kreem)
„Diese zwei Vitrinen sind mittelalterliche Kirchengeschichte. Wir haben von 1509 diesen letzten Ablassbrief. Eine Papst-Bulle haben wir auch.“
Sprecher:
Schriften aus einer Zeit, als die Macht der katholischen Kirche noch ungebrochen war.
Take 3: (Juhann Kreem)
„Wir haben hier im Stadtarchiv datierbare Beweise von Anfang der 20er Jahre, 1521ist diese Zeit, wo die livländischen Landesherren versuchen, die Reichsacht von Worms im Land bekanntzumachen. Wo Luther als vogelfrei deklariert war.“
Sprecher:
Doch schon im selben Jahr verbreitet ein Stadtschreiber aus Reval – dem heutigen Tallinn – Auszüge aus Martin Luthers Schrift „An den christlichen Adel“. Andere Dokumente bestätigen die Privilegien der Hansestadt Reval. Der König von Schweden und Dänemark und der russische Zar haben sie unterschieben. Eine Handschrift bestätigt das Lübecker Recht, das bis 1877 in Reval gültig war.
Take 4: (Juhann Kreem)
„Wir haben drei erhaltene Luther-Briefe. Luther hat dreimal direkt an den Revaler Rat geschrieben, dieser älteste ist von 1531. Nach der Pest hat Reval seinen Oberhirten verloren. Sie haben dann Luther gefragt, ob er einen Superintendenten schicken kann, und Luther hat gesagt: Nein, ich habe hier einen tüchtigen jungen Mann, aber er muss noch lernen.“
Atmo 2:
Tür wird geöffnet im Herrenhaus
Sprecher:
In einem alten Herrenhaus in Köue, eine halbe Stunde von Tallin entfernt, begrüßt Hausherr Eerik-Niiles Kross seine Gäste.
Atmo 3 :
Eerik-Niiles Kross: „I am very happy …”
Sprecher:
Er ist Politiker der konservativen Partei „Pro-Patria und Res-Publica-Union“, seine Eltern Ellen und Jaan Kross waren beide Schriftsteller. Er hat das marode Herrenhaus, dessen Anfänge im 13. Jahrhundert liegen, zu einem luxuriösen Hotel umgebaut.
Im großen Saal erzählt die Historikerin Sirje Kivimäe
von den Anfängen der Reformation im Baltikum.
Take 5: (Sirje
Kivimäe)
„Die Klöster wurden natürlich liquidiert und all sowas, und so haben auch die Vasallen, die späteren Gutsbesitzer und die adligen Leute haben das ja aufgenommen.“
Sprecher:
Die Reformation hat in Estland nicht nur früh begonnen, sie nahm auch eine ganz besondere Entwicklung. sagt Stadtarchivar Juhann Kreem
Take 6: (Juhann Kreem)
„Hier sind zwei große Unterschiede: Erstens ist in Livland nirgendwo der Stadtrat gekippt. Die Stadtverwaltung ist geblieben. Das ist Obrigkeits-Reformation von früh an. Und zweitens, noch eine größere Sache: Wir haben kein Bauernkrieg.“
Sprecher:
Evangelische Pfarrer predigten schon früh in der estnischen Landessprache. Sie kamen nicht aus Sachsen, dem Stammland der Reformation, sondern zumeist aus den norddeutschen Hansestädten und aus Westfalen.
Take 7: (Juhann Kreem)
„Es gibt ein ständiges Hin und Her. Information aus dem Reich kam relativ schnell. Wenn man hier so Briefwechsel von Geistlichen liest, die sind interessiert, also ist das neue Buch von Erasmus schon da? Wir wollen das lesen oder kaufen.“
Sprecher:
Der Protestantismus wurde zur Religion der Oberschicht, bald schon sprach man von der „Herren- und Kolonialkirche“.
Atmo 4:
Herrenhaus
Im Herrenhaus beschreibt Sirje Kivimäe das heikle Verhältnis der Esten zur deutschstämmigen Oberschicht.
Take 8: (Sirje Kivimäe)
„Die Esten in der Hansestadt Reval, die waren ‚undeutsch‘, diese ersten Katechismen waren in der undeutschen Sprache: estnisch und livisch. Das war ja die Sprache, die heutzutage fast verschwunden ist.“
Sprecher:
Die Bevölkerung misstraute der Reformation. Nicht nur, weil es die Religion der Oberschicht war, sondern auch, weil ein vorchristlicher Glaube ihren Alltag mitprägte.
Im 18. Jahrhundert vermittelte vor allem die Herrnhuter Brüdergemeine zwischen oben und unten. Manche behaupten sogar, dass die estnischen Bauern erst durch den Einfluss der Herrnhuter zu wirklichen Christen wurden. Unbestritten sind ihre Verdienste bei der Vermittlung des protestantischen Glaubens auf dem flachen Land. Sie beförderten Bildung und Wohlfahrt und halfen, dass die einfachen Leute lesen und schreiben lernten.
Take 9: (Juhann Kreem)
„Die Entwicklung der estnischen Schriftsprache ist ganz stark mit dem Protestantismus verbunden. Dass man eine estnische Bibel haben muss, ist zuerst eine protestantische Idee, also wir haben 1739 die erste estnische Vollbibel.“
Sprecher:
Die Reformation hatte weitreichende Folgen für die Zivilgesellschaft. Viele Vertreter der estnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts waren Männer der Kirche. So sammelte der Pfarrer und Sprachwissenschaftler Jakob Hurt estnische Volksdichtung und Volkslieder, die er lektorierte und herausgab.
Heute ist die Beziehung der Esten zum Protestantismus allerdings alles andere als einfach, denn die Geschichte der estnischen Reformation kennen viele Esten aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht mehr.
Take 10: (Juhann Kreem)
„Die Lutherische Landeskirche war auch Teil der ständischen Gesellschaft, was während des Ersten Weltkrieges und bei Gründung der Estnischen Republik ein Problem wurde. Pastoren waren in der Mehrheit Deutsche. Sie waren Fremde und natürlich als Großgrundbesitzer Teil der alten Ordnung.“
Sprecher:
Deshalb wurde 1918 nicht nur die Estnische Republik, sondern auch die Estnische Volkskirche gegründet, um der deutschen Vorherrschaft etwas entgegenzusetzen.
Zur Zeit der Sowjetunion wurden die Gotteshäuser zu Sporthallen und Bibliotheken: Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Nicolai-Kirche in Tallinn, die im 13. Jahrhundert von westfälischen Kaufleuten gegründet wurde, war als „Museum für Atheismus“ neu aufgebaut worden. Bis heute ist hier mittelalterliche Kirchenkunst zu sehen, darunter der berühmte Totentanz von Bernt Notke aus dem 15. Jahrhundert, dessen Pendant in der Hansestadt Lübeck bei einem Bombenangriff in der Nacht zum 29. März 1942 vollständig zerstört worden ist.
Take 11: (Juhann Kreem)
„Gerade wenn man heutzutage über das Land fährt, dann sind die orthodoxen Kirchen Ruinen, und die lutherischen Kirchen, dort passiert etwas. Glamour ist das nicht., aber eine Gemeinde von ein paar alten Frauen hat das immer noch.“
Sprecher:
Evangelische Kirchgänger sind selten geworden. Heute leben mehr russisch-orthodoxe Christen als Protestanten im Land. Das hat mit der Sowjetherrschaft zu tun, die von 1944 bis 1990 dauerte. Aber schon bei der Gründung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg hat sich Estland säkularisiert. Der Staat hielt sich vom Glauben fern.
Take 12: (Juhann Kreem)
„Als Historiker habe ich ein Verständnis davon oder ein Bild. Aber wie erzähle ich das hier im sehr säkulären Estland, wo man wirklich anfangen muss, was ein Katechismus ist?“
Sprecher:
Die estnische Republik ist mit der Reformationsgeschichte eng verbunden. Es ist eine spannende, folgenreiche Geschichte, die im Land neu erzählt werden muss. Auch deshalb feiert die evangelische Kirche in Estland den Jahrestag der Reformation.
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