Achim Engelberg

Publizist - Autor, Herausgeber, Kurator, Berlin

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Welt ohne Zentrum

Von der Gegenwart weiß ich nichts, weil ich dabei gewesen bin' - immer wieder in den letzten Jahren muss ich an diesen Satz denken. Er stammt aus den Tagebüchern des deutsch-jüdischen Autors Victor Klemperer, der ihn während des Naziregimes, inmitten von Leid und Unsicherheit, fast beiläufig notierte." So beginnt das neue Buch des belgischen, niederländischsprachigen Autors Stefan Hertmans, sein erster ins Deutsche übersetzter Essayband. Das für diesen Autor charakteristische Pendeln zwischen Geschichte und Gegenwart zur Erkenntnis der letzteren, zeigt sich damit gleich am Einstieg. Zeitgleich zum schmalen deutschen Band erschien in den Niederlanden eine fast 1400 Seiten umfassende Ausgabe seiner zwischen 1982 bis 2022 publizierten Essays, woraus wohl noch das ein oder andere Buch in deutscher Übersetzung zu destillieren wäre. Alle seine Bücher - vier liegen nun auf Deutsch bei Diogenes vor - versuchen, auf festem historischen Grund unsere Welt ohne Zentrum neu zu kartographieren und markant zu deuten. Hertmans ist nicht auf der Suche nach der verlorenen Zeit, sondern ihn bewegt - so der Titel seiner nun erschienenen 20 kurzen Essays - „Die Suche nach der Gegenwart".

Hertmans' viel übersetzter Roman „Krieg und Terpentin" oszilliert zwischen der Welt seines malenden Großvaters, der die Schrecken an der belgischen Front im Ersten Weltkrieg erlitt, und der Welt des 1951 geborenen Enkels. Dass dieser bisher längste und blutigste Stellungskrieg der Geschichte in Belgien wie in Frankreich bis heute der Große Krieg heißt, verweist auf das langandauernde Trauma, von dem der Enkel mit durch Dokumente entflammter Fantasie erzählt. Dabei schlüpft er bei Kriegspassagen zuweilen sogar in die Ich-Form. Ähnlich verfährt Hertmans in seinem zeitlich wie räumlich weit ausgreifenden Roman „Die Fremde", in dem er Geschichten eines mittelalterlichen Flüchtlingsliebespaares erzählt. Das packt er aber nicht in die Form eines Historienromans, vielmehr begegnet der Erzähler in der Tradition des von ihm bewunderten W. G. Sebald bei seiner Recherche heutigen Schutzsuchenden. Es ist eine tausend Jahre alte und zugleich verstörend aktuelle Geschichte über Vertreibung und Flucht.

Bezeichnenderweise vermischen sich auch in Hertmans prägnantem Roman „Der Aufgang", der die Geschichte des flämischen Kollaborateurs und SS-Manns Willem Verhulst (1898-1975) erzählt, Dokumentarisches und Autobiographisches. Die Gespenster der Geschichte hausen in Hertmans' Wohnhaus, in dem einst Verhulst lebte. Wie auch Sebald montiert Hertmans dabei Fotos spannungs- und assoziationsreich zusammen. Allerdings kann der flämische Autor, der auch Theaterstücke verfasst, anders als sein deutscher Kollege meisterhaft Dialoge schreiben. Und das Motto seines Romans „Die Fremde" könnte vor jedem seiner vier auf Deutsch lieferbaren Bücher stehen: Es stammt aus Thomas Manns „Joseph und seine Brüder": „... aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier". Wenn große Literatur nach Hertmans in der Spannung zwischen dem offiziellen Gedenken und dem, woran wir uns persönlich erinnern, entsteht, dann ist dieser Erzähler und Lyriker, Essayist und Dramatiker auf dem Weg zum Klassiker. Er zeigt planetarische Konflikte in ihren regionalen Auswirkungen.

Künftige Umbrüche aufspüren

Verwurzelt und nicht ortlos erweist Hertmans sich auch in seinem Essayband. In 20 Passagen tastet er sich durch unsere Gegenwart, wo vieles verflochten ist wie noch nie. Es mag zunächst befremden, dass er den Klimawandel, die Krise der neoliberalen Weltordnung und die Migration als die drei großen Themen unserer Epoche benennt. Wo ist der Krieg? Und sind sie nicht miteinander verbunden, lassen sie sich überhaupt trennen? In den Reflexionen, in denen Hertmans die Eingriffe in das Leben der anderen vom Kolonialismus bis zur Zerstörung früherer Formen des Zusammenlebens diskutiert, überzeugt er: „Die wachsende soziale und ökonomische Ungleichheit wird - von der neoliberalen Marktlogik verursacht und durch den Klimawandel verstärkt - , zu noch mehr Migration führen."

Immer überraschend schwingt er sich auf den Schultern von Denkern von Sokrates bis Adorno in geistige Höhen, er nutzt aber auch Erlebtes zum Pendeln zwischen gestern und heute, zwischen Europa und anderen Weltgegenden. So erzählt er von einem afrikanischen Priester, der ihm den Antisemitismus ungewohnt erklärt, und erkennt, wenn eine Person of Colour den Antisemitismus „als Stammeskrieg unter Weißen" versteht, „dass wir alle aktuellen Probleme geopolitisch vollkommen neu kalibrieren und unsere Themen, Motive und Argumente einer geistigen Migration unterziehen müssen". Natürlich weiß Hertmans, es gibt schwarze Juden, aber da europäische Holocaustüberlebende und deren Nachkommen Israel aufbauten, da das kleine Land mittlerweile von westlichen Staaten, allen voran die USA, unterstützt wird, sehen es in viele in arabischen Ländern und im Globalen Süden als „weiß" und privilegiert an.

In einer anderen Passage stellt er den Pessimismus über die Wirkungsmöglichkeiten der Literatur des deutschen Kritikers Lothar Müller, der eine der besten Besprechungen von „Die Fremde" schrieb, dem Optimismus der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie gegenüber -, was viel über die entstehende Weltordnung in Zeiten der Umbrüche aussagt. Dass Stefan Hertmans gegen die Banalität des identitären Denkens und eines diktaturaffinen Marktextremismus anschreibt, überrascht nicht, allerdings gelingen ihm dabei Ein- und Aussichten: „Auf den Widerspruch der Verbraucher, die einerseits von der Globalisierung profitieren, indem sie Waren aus allen Teilen der Welt konsumieren, andererseits aber in einem Stammesdenken verharren, ist oft hingewiesen worden. Möglicherweise ist diese seltsame Verschmelzung von Globalismus und Tribalismus in unserer heutigen Welt ein Vorzeichen für die Entstehung eines zukünftigen universellen Hybrids."

Vielerorts und mannigfaltig sieht er einen enormen Reformstau, der sich irgendwann entladen wird: „Wo wirtschaftliche Motive mit Moralismus verknüpft werden, bildet sich ein Liberalismus, der ein politisches Denken nahezu unmöglich macht. Und in einer solchen neoliberalen, verwirrenden Pseudo-Objektivität bewegen sich die westlichen Gesellschaften schon seit Jahrzehnten." In dieser Endlosschleife, gefangen in einem apokalyptischen Limbo, werden viele Reiche noch reicher und der Mittelstand erodiert. Nicht wenige werden anfällig für diktatorische Versuchungen. Der neue Faschismus hängt an der alten sozialen Frage: „Die gewissenlose Globalisierung bestimmt auch das Verhältnis von Lohn und Lebenshaltungskosten. In ganz Europa müssen immer mehr Arbeitende am Monatsende die Tafeln aufsuchen."

Jeder Essay des Bandes kann für sich gelesen werden, umkreist ein eigenes Thema, aber es gibt wiederkehrende Motive. Dabei werden die Essays aber bewusst chronologisch wiedergegeben. So notiert Hertmans einmal, es sei der Tag, an dem der Tod des Schweizer Fotografen René Robert im Zentrum von Paris bekannt gegeben wird. Am 19. Januar 2022 erlitt dieser einen Herzinfarkt und lag neun Stunden hilflos auf der Straße. Als ausgerechnet ein Obdachloser den Notarzt holte, war es zu spät, weil Robert schon tödlich unterkühlt war. Er starb, „weil Stadtbewohner den Bürgersteig nicht länger als einen Ort verstehen, wo man mit seinen Mitbürgern zusammentrifft, sie anspricht oder ihnen hilft, sondern wo man sich gegenseitig ignoriert".

Stefan Hertmans ist ein lokaler Autor, der zwischen zwei Ländern, Belgien und Frankreich, zwischen Brüssel und dem südöstlich des Mont Ventoux gelegenen Monieux pendelt. Er reifte zu einem belgischen, niederländischsprachigen Großautor, einem europäischen Erzähler, dessen beste Werke in die Weltliteratur ragen. Er kennt die europäische Müdigkeit, aber bezieht auch Kraft aus den Träumen von Menschen im Globalen Süden. Er ist ein Fährtenleser unserer Welt ohne Zentrum, in dessen Rissen, Kanten und Brüchen in Geschichte und Kultur, Religion und Alltag er künftige Erdbeben und Umbrüche liest und deutet. Im seinem neuen Buch geschieht das gewissermaßen in Pillenform - in Essays, die man schnell liest, die aber lange nachwirken.


Stefan Hertmans: Die Suche nach der Gegenwart. Essays für eine Zeit der Übergänge. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Diogenes, Zürich 2024, 192 S., 26 Euro.
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