ALEKSANDAR TIŠMA, ACHIM ENGELBERG
NACHRUF AUF EINE KOSMOPOLITISCHE STADT
Ein Gespräch über Novi Sad und das Schreiben als Obsession
Begegnungen mit Aleksandar Tišma
Viermal traf ich Aleksandar Tišma. 2002 wurde ich ihm in der Berliner Akademie der
Künste vorgestellt – anläßlich einer Lesung von Durs Grünbein. Anschließend wollte
der damals fast achtzigjährige serbisch-jüdische Schriftsteller zu seiner Stipendiaten-
wohnung in Charlottenburg laufen. Der Weg ist lang und es war nach zehn Uhr. Einige
Akademie-Mitarbeiter wollten ein Taxi rufen oder boten an, ihn zu fahren. Er winkte
lächelnd ab, er kenne den Weg, er brauche lange Spaziergänge. Ich dachte an Protagoni-
sten seiner Romane, die stundenlang durch die Straßen laufen, im Kopf den Schrecken
des Jahrhunderts.
Bei seiner eigenen Lesung im selben Jahr sah ich ihn wieder. Mit seiner Übersetzerin
Barbara Antkowiak sprach er serbisch, wir unterhielten uns auf deutsch und mit dem
damaligen Akademiepräsidenten György Konrád scherzte er auf ungarisch. Der Chro-
nist von Novi Sad, wo Serben und Juden, Ungarn und Deutsche, Kroaten und Arme-
nier neben- und miteinander gelebt hatten, wechselte mühelos von einer Sprache in die
andere. Beim dritten Treffen fand das nachfolgende Gespräch statt, das auszugsweise für
Artikel verwendet wurde, aber hier erstmals als solches publiziert wird.
Zuletzt lud er mich in seine Charlottenburger Wohnung ein. Ausgerechnet über dem
Hauseingang des Autors von »Die Schule der Gottlosigkeit« stand in großen Buchsta-
ben: »Was Gott ist, setzt sich durch«. Schon mehrere Journalisten, so Tišma, hätten ihn
danach gefragt. Es störe ihn nicht, ihm sei es zuerst gar nicht aufgefallen, er beobachte
vor allem Menschen.
Zu einem Treffen in Novi Sad kam es nicht mehr; Aleksandar Tišma starb im Alter von
neunundsiebzig Jahren am 16. Februar 2003. Als ich wenige Wochen später erstmals
die Stadt an der Donau besuchte, waren die während des Kosovokriegs 1999 zerstörten
Brücken noch nicht wieder aufgebaut, es gab nur Behelfsübergänge, die den Schiffsver-
kehr gravierend einschränkten. Nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsiden-
ten Zoran Ðin ¯di am 12. März 2003 war das Land im Ausnahmezustand; überall gab es
strenge Straßenkontrollen.
Im von Tišma empfohlenen Flußrestaurant hörte ich ein Gespräch einheimischer Gäste,
die von einer in die andere Sprache wechselten. Die Donau glitzerte in der Sonne; vom
Ufer sah man das Denkmal für die Opfer des Massakers vom Januar 1942. Diese »Töte-
rei«, wie sich Tišma in einem altertümlichen Ausdruck vieler deutscher Minderhei-
ten ausdrückte, grundierte Leben und Werk des großen Erzählers und war der Anfang
vom Ende des kosmopolitischen Novi Sad. Es wird auch in Büchern von Danilo Kiš
(1935 – 1989) heraufbeschworen, der die Donaustadt zusammen mit Aleksandar Tišma
in die Weltliteratur einführte.
Im 18. Jahrhundert erhob Maria Theresia auf Wunsch der Bürger den Ort, eine Mili-
tärsiedlung am Rande der Habsburgermonarchie, zu einer »königlichen Freistadt«.
»Nominentur Neoplanta« (Nennen wir es Neoplanta) heißt es in der Gründungsurkunde
der Monarchin von 1748, den Namen der Stadt sollte jeder Bevölkerungsteil in seine
eigene Sprache übertragen. Die Serben nannten sie Novi Sad, die Deutschen Neusatz,
die Ungarn Újvidék.
Im Programm von Novi Sad, Kulturhauptstadt Europas 2022 und erste Titelträgerin
außerhalb der Europäischen Union, wird die kosmopolitische Stadt beschworen, die aber
keine Realität mehr ist. Der ungarischsprachige Schriftsteller Lászlo Végel sagte mir, ich
hätte 2003 noch die letzten Ausläufer erlebt, aber es sei eigentlich schon vorbei gewesen.
Seinen bekanntesten Roman, »Bekenntnisse eines Zuhälters«, übersetzte Aleksandar
Tišma für die jugoslawische Ausgabe.
Seine Heimatstadt und sein Land sind für Lászlo Végel von Paradoxien gekennzeichnet:
Auf dem Weg in die Europäische Union, ein unwahrscheinlich werdendes Ziel, intensiviert
sich die Beziehung zu Rußland. Immer mehr junge Leute verlassen das Land, nicht wenige
wollen nach Deutschland. Viele der nach Tito und antifaschistischen Partisanen benannten
Straßen tragen heute wieder die Namen serbischer Adliger und Geistlicher. Die höchste
Statue der Stadt ist das neue, zehn Meter hohe Reiterstandbild von Petar Kara ¯dor ¯devi I.:
»Die Königsstatue auf dem Platz der Republik ist das authentischste Paradoxon.«
Der Aktionskünstler Andrej Tišma, der 1952 geborene Sohn des Schriftstellers, küm-
mert sich um das Erbe seines Vaters. Mittlerweile gibt es an dem Haus, in dem dieser
jahrzehntelang lebte, eine Gedenkplatte; in der Wohnung soll ein Museum eingerichtet
werden. Erster Preisträger des 2019 geschaffenen Aleksandar-Tišma-Literaturpreises ist
der ungarische Autor László Darvasi, den zweiten Preis erhielt 2022 David Albahari.
Tišma paßt dennoch nicht in das offizielle Bild einer kosmopolitischen Minderheiten-
stadt. Sein Werk ist eher ein Nachruf darauf und leuchtet ihre dunklen Stellen aus. Der
scharfe Beobachter blickt auf die triebhafte Unterseite der großen Politik, bevor sie zu
Geschichte gerinnt. Er zeigt, was sich aufgrund der Conditio humana alles nicht ändert.
Hier liegt die ungeheure Aktualität von Tišmas Werk: Selbst wenn solche Minderhei-
tenstädte nicht von Dauer sind, so schaffen sie oft Dauerhaftes wie etwa die Vielfaltar-
chitektur von Novi Sad. Der Verlust solcher kosmopolitischen Städte in Südosteuropa,
aber auch in anderen Rand- und Übergangsregionen wie am Südrand des Mittelmeers ist
gewaltig, sollte aber nicht verklärt werden. Spannungen gab es immer; oft entzünden sich
an Bruchlinien Kriege oder Vertreibungen.
Heute ist Novi Sad eine vorrangig serbische Stadt in einem serbischen Nationalstaat
an einer schwer bewachten EU-Außengrenze. Im Umland warten Migranten darauf,
diese überwinden zu können, um in den Nordwesten Europas zu kommen. In unmittel-
barer Nähe des Tišma-Reliefs an seinem Wohnhaus kann man T-Shirts mit dem Antlitz
von Wladimir Putin kaufen, dessen Angriff auf die Ukraine von nicht wenigen in Ser-
bien – wo Ressentiments gegen den »Westen« weitverbreitet sind – begrüßt wird. Seit
2017 ist Aleksandar Vuˇci Staatspräsident, ein ehemaliger Informationsminister unter
Miloševi – ein Zeichen dafür, daß die alten Eliten noch nicht abgelöst sind, es immer
noch Variationen autoritärer Vetternwirtschaft gibt. In vielen Balkanstaaten steigt die
Fieberkurve. Ein heißer Frieden liegt schwer und drohend über der Region.
Achim Engelberg
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