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Der besiegte Sieger

Reinhart Koselleck schien sich von Geburt an auf der Siegerstraße des Fortschritts zu bewegen. Doch der Sohn einer bürgerlichen Familie mit Bildung und Besitz erlebte und erlitt die Abgründe eines extremen Zeitalters - und entwickelte daraus ein Werk, das gerade in den letzten beiden Jahrzehnten weltweit übersetzt wird. Neben dem repräsentativen Band zu seinem hundertsten Geburtstag „Geronnene Lava" ist nun ein weiterer Briefband - nach jenem mit Carl Schmitt jetzt mit Hans Blumenberg - erschienen, dazu die auf dem Nachlass fußende intellektuelle Biographie von Stefan-Ludwig Hoffmann „Der Riss in der Zeit".

Dadurch wird das Ende seines bürgerlichen Entwicklungsromans plastisch kenntlich: Als Soldat an der Ostfront hört Koselleck von den Massenerschießungen in Babyn Jar, wo die Nazis im größten Massaker des Zweiten Weltkriegs mehr als 33 000 Juden ermordeten. „Wie ein Lauffeuer" geht die Kunde umher, die der große Historiker aber lange verdrängt. Noch während des Krieges erfährt er von einer Tante, der Goethe-Expertin Hildegard Marchand, beim Tee in Weimar „von den fürchterlichen KZ-Zuständen auf dem Ettersberg". Als sowjetischer Kriegsgefangener reißt er dann in Auschwitz die IG-Farben-Fabrik ab, in der wenige Monate zuvor Primo Levi, der später von ihm bewunderte große literarische Zeuge der Shoah, schuften musste.

Nicht durch Aufklärung, sondern durch ein unerhörtes Erlebnis wird Koselleck die Realität der Gaskammern deutlich: Wütend bricht es aus einem ehemaligen Häftling, der Kriegsgefangene bewacht, mit zum Schlag erhobenen Schemel heraus: „Was soll ich dir schlagen Schäddel ein, ihr habt ja vergasst Millionen.“ Später kommt Koselleck in ein Kriegsgefangenenlager nach Kasachstan. Die Strapazen der Haft verändern ihn so, dass der Vater den Sohn bei der Rückkehr ins aufgeteilte Deutschland zunächst nicht erkennt.
In der zerbombten Heimat erfährt Koselleck, dass die Nazis seine schizophrene Tante im Euthanasieprogramm vergast haben, seine beiden Brüder im Krieg starben, Breslau, wo er Teile seiner Kindheit verbracht hatte, nun zu Polen gehört und zwei Drittel seiner Schulklasse nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Rückblickend notiert er: „Krieg und Russische Gefangenschaft = Erfahrungswissenschaft.“
Im Jahr 1947 kommt es in Schloss Göhrde in der Lüneburger Heide zu einer denkwürdigen Begegnung. Einer seiner Demokratielehrer ist der noch unbekannte Eric J. Hobsbawm. Beide entwickeln sich zu musisch gebildeten Jahrhunderthistorikern. In seiner Jugend wollte Koselleck an der Kunstakademie studieren, weshalb eine Zeichnung des jungen Hobsbawm überliefert ist, der Jazzkritiken verfasste. Bis heute kann man die Werke beider als Kri-
tik des jeweils anderen lesen, zuweilen gibt es verblüffende Parallelen. Für Reinhart Koselleck war auf lange Sicht die Geschichtsschreibung der Verlierer oft weiser: „Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlass überdauern.“ In Erwartung des Sieges des Sozialismus schrieb Hobsbawm schlechter, als wenn seine Erfahrungen mit den Krisen des Kapitalismus einflossen. So sah er im Epilog seines Werks „Das Zeitalter der Extreme“ (1994) die Widersprüche klarer und immer noch verblüffend
aktuell, während seine liberalen Kritiker erfahrungslos und erwartungsvoll an ein „Ende der Geschichte“ glaubten.


Die gegenwärtige Vergangenheit
Ein episches Meisterwerk schrieb Koselleck nie. An mangelnder Fähigkeit kann es bei diesem Stilisten nicht gelegen haben. Aber alle opulente Weltgeschichtsschreibung tendiert zu von der Erfahrung abgelösten Ideen. Hobsbawms Dreiteilung des 20. Jahrhunderts in „Katastrophenzeitalter“, „Goldenes Zeitalter“ (1945 bis Mitte der 1970er Jahre) und „Erdrutsch“ kann erzählerisch fesseln, aber intellektuell nicht überzeugen. Zeugen die Millionen, die in China durch menschenverursachten Hunger und Terror qualvoll starben, von einem „goldenen Zeitalter“?
Hier ist der auf Erfahrungen insistierende Meisteressayist Koselleck prägnanter. Das Allerweltswort „Globalisierung“ nennt er im Deutschen „Verkugelung“ und betrachtet die zunehmenden Rückwirkungen der kolonialen Expansionen auf Europa. So tobt der Siebenjährige Krieg in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur in Schlesien, sondern wütet als Konflikt europäischer Mächte in Nordamerika, in Indien oder Afrika. Es war ein anderer Erster Weltkrieg, der in seiner Gänze den Erlebnissen und Erfahrungen eines Einzelnen entzogen war. In dieser aufbrechenden Lücke konnten nach Koselleck losgelöste Leitideen in der damit verbundenen Beschleunigung der Geschichte wirken. Die Historie wurde beispielsweise oft als handelndes Subjekt vereinheitlicht, und Napoleon galt als „Weltgeist zu Pferde“. Nach den sinnlosen Massentötungen des 20. Jahrhunderts ist für Koselleck „die“
Geschichte jedoch keine Lehrmeisterin mehr.
Zum modernen Diderot wird er als entscheidender Herausgeber der enzyklopädischen siebenbändigen Ausgabe „Geschichtliche Grundbegriffe“, für die er als produktiver Autor schreibt. Im Gegensatz zu den beiden älteren Mitherausgebern Otto Brunner und Werner Conze ist er nicht bestrebt, den Riss der Nazidiktatur zu überdecken.
In seinem Willen zur Erkenntnis nimmt Koselleck vernachlässigte Quellen ernst: „Die erzählten Traumgeschichten bezeugen – als fiktionale Texte – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst. Der Terror wird nicht nur geträumt, sondern die Träume sind selber Bestandteil des Terrors. Sie werden in den Leib diktiert.“ Sie gehören für Koselleck zur „gegenwärtigen Vergangenheit“, was die durch Narben und Erinnerungen uns stets begleitende Historie meint. Er stellt immergrüne Fragen und gibt immer wieder neue vorläufige Antworten, weshalb sein Werk Fragment bleiben muss: Was sind die Bedingungen möglicher Geschichten? Wie viel Geschichte ragt in die Gegenwart und welche Zukunft wächst aus ihr?


Mit dem Rücken nach Osten
Wer Kosellecks Texte zum politischen Totenkult liest – er misstraute Konstrukten wie „Kollektives Gedächtnis“ – erkennt, wie scharf er Gefahren des mittlerweile Durchgesetzten wie der Neuen Wache in Berlin sah, bis hin zur Hierarchisierung der Opfer. In einem der wenigen Ost-West-Dialoge zwi- schen dem marxistischen Historiker Ernst Engelberg und dem konservativen Verleger und Essayisten Wolf Jobst Siedler findet man Ähnliches. Der
Titel „Es tut mir leid: ich bin wieder ganz Deiner Meinung“ zitiert einen Antwortbrief Siedlers zur scharfen Ablehnung Engelbergs am neuen Gedenken der 1990er Jahre. Freilich, es setzten sich nun nachgeborene Generationen durch, die sich in der Gnade der späten Geburt wähnten. Westdeutsche, so muss man hinzufügen. „Moskau hat das Gesicht Deutschlands gewaltsam nach Westen gedreht“ ist der einzige Essay von Wolf Jobst Siedler, der in allen Auswahlbänden seiner Schriften enthalten ist. Und viele, die zu Kosellecks 100. Geburtstag Scharfsinniges schrieben, entwickelten sich mit dem Rücken nach Osten. Ihre Fehler bezüglich dieser ihnen unbekannten Weltgegenden fallen umso stärker auf, weil Kosellecks markante Erinnerungstexte gleichzeitig erschienen. So besitzt das Steppengebiet um Karaganda eine ungeheure epische Kraft, allerdings umfasste es nie, wie man in der
ansonsten überzeugenden Studie von Stefan-Ludwig Hoffmann lesen kann, fast die Größe Frankreichs. Und Koselleck war dort nie im Gulag, wie es in allen Gedenkartikeln in den großen Medien hieß, sondern in Kriegsgefangenenlagern. Das ist keine Spitzfindigkeit, sondern Koselleck erlitt dadurchnicht die den Gulag charakterisierende Herrschaft der Kriminellen, die die politischen Häftlinge terrorisierten.
Kann man bald, wo Liveticker zum Krieg in der Ukraine informieren, ein Gegenstück zu Siedlers nun klassischem Essay schreiben? Dringend gesucht sind die, die Ost-West-Passagen ermöglichen.  Nicht zuletzt deshalb sollte man den schon 2006 verstorbenen Reinhart Koselleck lesen, der kundig im westlichen und östlichen Gelände war.


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