1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/der-bulgarische-schriftsteller-und-drehbuchautor-angel-wagenstein-ld.823231

Hier mein alter Artikel zum 90. Geburtstag von Angel Wagenstein zum 100. Geburtstag



Der Geschichtenschmuggler
Eine Begegnung mit dem bulgarischen Schriftsteller und Drehbuchautor Angel Wagenstein

Er war Emigrant und Partisan, sass in einer Todeszelle und studierte in Moskau, arbeitete als Drehbuchautor und Regisseur in Ost- wie in Westeuropa. Daneben hat er Romane verfasst. Dennoch geniesst der Bulgare Angel Wagenstein im Westen nicht die Bekanntheit, die ihm gebührt.

Achim Engelberg

Erstaunlich agil ist Angel Wagenstein und voller Pläne, dabei wird er am 17. Oktober neunzig Jahre alt. Sein 2004 in Sofia erschienener, seit 2010 auch in deutscher Übersetzung vorliegender Roman«Leb wohl, Schanghai» soll nächstens verfilmt werden. Deshalb müsse seine Autobiografie warten, sagt er – und das, obwohl sein Leben wahrlich dramatische Wenden genommen hat.
«Meinen Vater habe ich im Gefängnis kennengelernt», erzählt der in eine Familie Plowdiwer
sephardischer Juden Hineingeborene. «Er war ein alter Bolschewik – und das bis ans Ende seines Lebens Anfang der neunziger Jahre.» Weil der Vater am kommunistischen Septemberaufstand von 1923 beteiligt war, wurde er verhaftet. Angel Wagenstein war vierJahre alt, als er ihn hinter Gittern besuchen durfte. Nach dem Ende der Haftemigriert die Familie nach Frankreich, da der Vater keine Arbeit mehr findet.

Dem Tod entronnen
Ab 1927 bietet ihnen Paris nicht viel mehr als Armut, und so sind die Wagensteins erleichtert, als ihnen die Generalamnestie von 1934 eine Rückkehr nach Bulgarien erlaubt. Doch nicht nach Plowdiw kehren sie zurück, sondern in die Hauptstadt Sofia, die sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt hat. Es wohnen bereits rund 300 000 Menschen da. Allerdings herrscht hier seit über zehn Jahren ein faschistisches Regime. «Ich meine faschistisches Regime wie in Italien, kein nazistisches wie in Deutschland», sagt Wagenstein. Als die deutsche Wehrmacht am 3. März 1941 in Bulgarien einmarschiert, schliesst Wagenstein sich den Partisanen an. Unter abenteuerlichen Umständen steckt er zusammen mit anderen das grosse Pelzlager in Brand, in dem wärmende Jacken für die 6. Armee der Wehrmacht lagern, die in Eiseskälte in Stalingrad kämpft. Nach solchen Aktionen
zieht sich «Jäcki» – so Wagensteins Spitzname – mit seiner Truppe zurück ins bulgarische Mazedonien. Helden freilich sehen anders aus, die Partisanen sind mittellos und müssen teilweise sogar barfuss laufen. Um dem abzuhelfen, planen sie die nächste tollkühne Aktion: einen Bankraub. Einige der Partisanen werden dabei erschossen, Wagenstein selbst gelingt die Flucht, doch wird er erkannt. Ein Fahndungsbild führt zu Denunziation und Verhaftung. Seine Hinrichtung als Partisan, Kommunist und Jude scheint gewiss.
Was ihn rettet, sind – eine denkwürdige Paradoxie – alliierte Bombengeschwader, die Sofia so wie Berlin und Dresden in Schutt und Asche legen. Die Metropole brennt, Menschen irren umher, verkriechen sich, fliehen oder sterben. Sofia versinkt im Chaos. Wachmannschaften evakuieren die Gefangenen nach Sliwen. Im Durcheinander verschiebt sich der Prozesstermin; als am 9. Mai 1944 das Todesurteil gefällt wird, steht die Rote Armee schon vor den Toren. Die deutsche Wehrmacht zieht sich eiligst zurück. Nach langen Tagen und Nächten in einer dunklen Todeszelle kann Angel Wagenstein schliesslich entkommen.

Filmklassiker über den Holocaust
Nach Kriegsende wendet sich Wagenstein der Filmkunst zu. Heute gilt er mit fünfundzwanzig
Spielfilm-Drehbüchern und etwa gleich vielen Dokumentarfilmen als Begründer der international anerkannten bulgarischen Filmkunst. In der DDR arbeitet er mit Konrad Wolf zusammen und in der Bundesrepublik mit Wolfgang Staudte, er dreht Dokumentarfilme für die ARD rund um den Globus. Sein Handwerk lernte er in der Moskauer Filmschule. «Sie ist im Jahr 1919 gegründet worden, und ich war 1950 der erste ausländische Student, der den Abschluss machte.» Ebenda lernt Wagenstein Konrad Wolf kennen, der nach Jahren des Exils und der erkämpften Rückkehr nach Deutschland wieder nach Moskau ging, um Filmregie zu studieren. Jahre später schreibt Wagenstein innert acht Tagen eine Geschichte nieder, die ihm lange nicht aus dem Kopf ging. Sie stösst zuerst auf Interesse, bleibt aber
dann liegen. Schliesslich nimmt Wolf sich der Regie an. «Sterne» erregt bei den Filmfestspielen inCannes 1959 beträchtliches Aufsehen.
Der Film erzählt das Schicksal griechischer Juden, die 1943 auf dem Weg in die Gaskammern von Auschwitz drei Tage in einer kleinen bulgarischen Stadt warten müssen. Dabei bittet die Jüdin Ruth den Wehrmachtsunteroffizier Walter um Hilfe für eine gebärende Mitgefangene. Dieser tut, was er kann, und die beiden verlieben sich ineinander. Der ehemalige Kunststudent wendet sich von der NS-Ideologie ab. Er gerät in Konflikt mit dem
befreundeten Vorgesetzten Kurt, der brutal soldatische Pflichterfüllung fordert, und seinem Wunsch, den im Wehrmachtsstützpunkt heimlich arbeitenden Widerstandskämpfern zu helfen. Beides ist unvereinbar; eigentlich will er nur Ruth retten. Als er aber ihren Abtransport nach Auschwitz nicht verhindern kann, geht Walter in den Widerstand.
Der Film bekam den Spezialpreis der Jury und wurde in 72 Länder verkauft. Vorher allerdings waren einige Hürden zu überwinden. So musste der Film als bulgarische Produktion in Cannes starten, da damals – wegen des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik Deutschland – keine DDR-Produktionen zugelassen waren. «In Bul-
garien wiederum», erinnert sich Angel Wagenstein, «war ‹Sterne› zunächst verboten – wegen sogenanntem abstraktem Humanismus. Wahrscheinlich missfiel einigen Leuten die Darstellung der bulgarischen Kollaboration mit den Nazis.»
In Israel verweigerte man lange die Aufführung, weil man die positive moralische Wandlung eines Wehrmachtsangehörigen nicht zeigen wollte, und in den arabischen Ländern wiederum sollte das Leid der Juden nicht ins Kino kommen, da es jenes der Palästinenser in den Schatten stellt. Mittlerweile ist «Sterne» – vor kurzem kam in den USAeine DVD-Edition heraus – einer der klassischenFilme über den Mord an den europäischen Juden.
«Es ist meine Geschichte», erläutert Wagenstein. «Der Jugendliche mit dem Rucksack, der den Partisanen Medikamente und Waffen bringt, das bin ich. Die Pistole gab mir mein Vater, ich benutzte sie als Partisan, und sie ist bis heute – behördlich genehmigt – in meinem Besitz.»
Eine weitere Produktion, für die Wagenstein das Drehbuch schrieb, erschien nun zum 30. Todestag von Konrad Wolf als DVD: die doppelbödige Verfilmung von Lion Feuchtwangers «Goya oder der arge Weg der Erkenntnis» aus dem Jahr 1971. Der Horror der Ideologien wird gespiegelt im Horror der Inquisition. Eine Szene ähnlich wie im Film, wo der von Rolf Hoppe gespielte König zögert, wie er das Gemälde der königlichen Familie beurteilen
soll, bis seine Frau die Peinlichkeit mit perlendem Lob auflöst, ereignet sich nach der Vorführung vor Funktionären in Leningrad. Wladimir Baskakow, ein mächtiger Sowjet-Filmfunktionär, der erst 1986 mit dem Beginn der Perestroika entmachtet wird, schweigt. «Gefühlte fünf Minuten», erinnert sich Angel Wagenstein. «Dann schlug er vor, in einem
georgischen Restaurant zu speisen. Schliesslich wollte er, dass Konrad Wolf den Film ändere. ‹Wir haben schon solchen Ärger mit Solschenizyn, und jetzt das›, redete er auf ihn ein.» Konrad Wolf, Sohn des kommunistischen Schriftstellers Friedrich Wolf und Bruder des ostdeutschen Geheimdienstchefs Markus Wolf, besitzt genügend Reputation und Kontakte, um sich durchzusetzen. Beim Film «Sonnensucher» von 1958 war ihm das nicht gelungen. Von heute aus gesehen zeigt sich dazwischen eine Zeitenwende. Die indirekte, in einen historischen Stoff verlegte Kritik war in den siebziger Jahren noch möglich, doch sie verlor an politisch-ästhetischer Kraft. Die wahre Gefahr erblickt das Regime in der dokumentarischen Prosa Solschenizyns. Beide, Konrad Wolf wie Angel Wagenstein, spüren das und wollen im «Troika»-Projekt, einer autobiografisch grundierten Auseinandersetzung mit der tragisch-töd-
lichen Geschichte des Kommunismus, direkter vorgehen. Ob es hätte gelingen können, muss offenbleiben – Wolf erlag vorher einem Krebsleiden. Zerbrach er an der Politik? «Nein», meint Wagenstein, «er ist an Liebeskummer gestorben. Die Liebe seines Lebens hatte ihn verlassen. In meinem langen Leben habe ich keinen kennengelernt, der daran gestorben ist – bis auf Konrad Wolf.»
Bevor Angel Wagenstein als Romancier neue Wege beschreitet, sucht er als Dokumentarfilmer den direkteren Zugriff auf eine sich wandelnde Welt. Wegen seiner 1973 in der ARD ausgestrahlten Kriegsreportage «Eine Patrone und drei Körner Reis» protestiert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wie könne es sein, dass ein bulgarischer Kommunist für das westdeutsche Fernsehen aus Nordvietnam berichte? «Tatsächlich», so lächelnd Wagenstein, «half mir dabei meine Vergangenheit. Erst als ich den Hauptleuten des Vietcongs meine
Partisanenvergangenheit erzählte, durfte ich ihre Guerillataktik filmisch dokumentieren.»

Umbruch und Abbruch
1989 brechen bewegte Zeiten an. Wagensteins Wohnung in Sofia wird zum Organisationsbüro für die grosse Demonstration vom 18. November, die das Ende des bulgarischen Staatssozialismus einleitet. Voller Pathos und mit tiefer Überzeugung spricht Angel Wagenstein vor einer grossen Menschenmenge den Satz: «Vom blutbefleckten Platz
des himmlischen Friedens in Peking bis zum Platz des niedergeschlagenen Prager Frühlings, dem Wenzelsplatz, von der grossen Chinesischen Mauer über die alten Mauern des Kremls bis zur eingestürzten Mauer der Schande in Berlin bahnt sich ein Befreiungsprozess wie ein Eisbrecher seinen Weg durch das zugefrorene Meer des Lügensozialismus und schiebt Generalsekretäre und Parteimarionetten gleichermassen beiseite.»
Der politische Umbruch geht mit einem Niedergang des bulgarischen Kinos einher, weshalb sich Wagenstein der Literatur zuwendet. «Fern von Toledo» heisst sein erster Roman, der, obzwar ins Französische übersetzt, auf Deutsch noch immer nicht vorliegt. Erzählt wird von Plowdiwer Juden, nach Vorbildern aus der Familiengeschichte. Als Ende des 15. Jahrhunderts nach dem Untergang des maurischen Reiches die Juden aus Spanien ver-
trieben werden, suchen sie eine neue Heimat in toleranteren Ländern. Ein solcher Ort ist das
Osmanische Reich, das sich über den Balkan erstreckt. So wenden sich denn in der Folge sephardische Juden hierher und siedeln sich vor allem in Handelszentren wie Plowdiw an. Ein später Nachkomme jener Verfolgten aus Toledo ist Angel Wagenstein, genauso wie der mit ihm befreundete türkische Erzähler Mario Levi (NZZ 20. 2. 12).
In seinem zweiten, auch auf Deutsch vorliegenden Roman, «Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks» (1999), erscheint die Tragödie der Hauptfigur, die zwei Weltkriege und drei Konzentrationslager überleben sowie den Verlust von fünf Heimatländern erleiden muss, als hintergründiger Schelmenroman. So heisst es denn in der Vorbemerkung: «Der Autor dankt herzlich allen bekannten Verfassern, Sammlern und Herausgebern von jüdischen Witzen und Schnurren, durch die mein Volk das Lachen in den tragischen Augenblicken seines Daseins zu einem schützenden Harnisch, einer Quelle der Courage und des Selbstwertgefühls gemacht hat!» Wagensteins Figuren sind wie Bäume, die sich im Sturm der Geschichte beugen und wenden, versehrt werden, aber meist nicht brechen. Schelmisch, zuweilen hart kämpfen sie mit allen Mitteln ums Überleben. Da wandeln sich Rabbiner zu Vorsitzenden des Atheistenklubs, oder es freuen sich Nachbarn aus dem Schtetl, die den Gaskammern
entronnen sind, über ein Wiedersehen in der kasachischen Steppe, wo der eine als «politischer Häftling» in einen anderen Gulag kommt als der andere, der als «Kriegsverbrecher» Zwangsarbeit leisten muss. Oder es gibt Alte, die in ihrer Jugend fanatisch Nationalflaggen schwenkten und den Zerfall des Habsburgerreiches herbeisehnten und schliesslich nostalgisch bei Kaffee und Kuchen in Wien sitzen und über die gute alte Zeit jammern, die leider nicht wiederkommen will.

Die Schwere des Jahrhunderts
«Leb wohl, Schanghai» von 2010 erzählt vom Schicksal europäischer Juden, die vor den Nazis ins ferne, von Japanern besetzte Schanghai fliehen und sich in den Widersprüchen einer neuen Welt verstricken. Mit dem Blick des Drehbuchautors aufs Wesentliche schreibt Wagenstein rasant, aber nicht hektisch, ganz durchdrungen von seinem Stoff. Geschickt weiss er in seinen Erzählungen das reale Geschehen ins Paradoxe überzuführen, so etwa,
wenn ein wohlhabendes, tief in der deutschen Kultur verwurzeltes jüdisches Musikerehepaar aus Dresden nach der geglückten Flucht nach China in bitterer Armut versinkt. Dabei gilt in den Kreisen der reichen Bagdad-Juden von Schanghai Deutsch weiterhin als «Symbol für einen besonders hohen gesellschaftlichen und kulturellen Status». Einige machen sogar mit den Nazis profitable Geschäfte.
Angel Wagensteins geschichtlich wie räumlich weit ausgreifende Romane erzählen von einem blutigen und zugleich hoffnungsvollen 20. Jahrhundert in all seinen Paradoxien, anschaulich, berührend und gedankenvoll. Dabei weiss der Autor die Schwere des Stoffes immer wieder mit schelmischen Anekdoten aufzulockern. «Wir Bulgaren waren immer gute Schmuggler», sagt Wagenstein. «Meine Geschichten – ob im Roman oder im Film – sind immer Koffer mit doppeltem Boden.»
Zum Original