1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Arbeiter verlassen Europa

Als die Bilder laufen lernten, filmten die Brüder Lumière, wie zahlreiche Arbeiter ein Werk verlassen. Dieser 1895 gedrehte und gezeigte, nicht einmal eine Minute dauernde Film gilt als Geburtsstunde des Kinos. Im gleichen Jahr fuhr Otto von Bismarck, der mit seiner von ihm geprägten ersten deutschen Einheit die Konsequenzen aus den industriellen Revolutionen gezogen hatte, durch den Hamburger Hafen. „Sie sehen mich ergriffen und bewegt", meinte der greise Politiker, dem die Welt der Schornsteine und riesigen Werften fremd blieb. „Ja, das ist eine neue Zeit, - eine ganz neue Welt." Zu dieser Verwandlung und Verflechtung der Welt trugen Film und Industrie wesentlich bei - allen voran die Werften.

Schiffe sind von jeher mythologisch und real mit der Eroberung und Rettung der Welt verbunden - von der Arche Noah bis zur ersten Weltumsegelung. Aber erst seit der Scheitelzeit der Industrialisierung gilt, was der Sozialhistoriker Marcel van der Linden so beschreibt: „Der Seehandel ist das Rückgrat der Weltwirtschaft." So steht es im soeben erschienenen Band „In den Stürmen der Transformation", erstellt von einer internationalen Forschergruppe um Ulf Brunnbauer und Philipp Ther, dem Werftenkollektiv. Sie vergleichen die Geschichte zweier Betriebe im kroatischen Pula und im polnischen Gdynia beim Übergang vom Realsozialismus in die EU. In dieser Mikrogeschichte scheinen die großen Umbrüche nicht nur auf, sondern werden auf den Schultern großer Sozialforscher wie Karl Polanyi reflektiert. Überall in Europa, zuerst im Westen, dann im Osten ging in Schüben die symbolische Macht und die gesellschaftliche Relevanz der großen Werften verloren. „Jenseits der Spezifik des Ortes sind die allgemeinen Muster der Erfahrung des Bedeutungsverlusts schwerindustrieller Arbeit erkennbar – ob in Gdynia und Pula oder Bremerhaven und Glasgow“, heißt es im Buch.

Die Wissenschaftler wählten Werften, weil diese „ein perfektes analytisches Scharnier zwischen Weltmarkt und nationaler sowie lokaler Entwicklung“ darstellen und gleichzeitig „emblematische Orte der industriellen Moderne“ bleiben, die „mit weitreichenden Vorstellungen von Fortschritt, Wohlstand und sicheren Arbeitsplätzen“ verbunden sind. Die Gezeiten des Welthandels zeigen sich prägnant in der Nachfrage nach Schiffen. Wie zuvor
im Westen vollzogen sich dabei auch im Osten über Jahrzehnte Prozesse, die mit der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre begannen und mit der Integration großer Teile Osteuropas in die Europäische Union ihren vorläufigen Endpunkt erreichten. Lange versuchten die Staaten des Ostblocks und Jugoslawiens, deren Führungen sich mit den Industriearbeitern stark identifizierten, die drohende Deindustrialisierung aufzuhalten. Während die alte Bun-
desrepublik Subventionen bereitstellte, um den Wandel sozialverträglich zugestalten, versuchte die DDR, Restrukturierungen eher aufzuhalten.

EU-Beitritt: Eine unterschätzte Zäsur
Beziehungen und Traditionen über Generationen hinweg gab es aber auch im Westen. In „The Last Ship“ besingt Sting seine Heimatstadt Wallsend im Nordengland, die für eineinhalb Jahrhunderte Standort einer der größten Werften nicht nur Großbritanniens, sondern der Welt war. Großvater und Vater des weltberühmten Musikers arbeiteten dort und auch die meisten seiner Schulkameraden, die in der Region blieben. Aber ein Kaleidoskop an
sozial-kulturellen Leistungen rund um die Werften wie in Polen oder Jugoslawien gab es in dieser Dichte im Industriekapitalismus nicht – von Kindergärten und Gesundheitszentrum, Kultureinrichtungen und Sportklubs, eigenen Geschäften bis zu Urlaubsheimen. Weniger das autoritäre Gesicht des Staatssozialismus wird daher heute positiv erinnert als viele arbeitsplatzbezogene Beziehungen. Das Werftenkollektiv bezieht sich dabei auf den
serbischen Historiker Predrag Markovic ́, der die positiven Seiten in sieben „S“-Werten bündelt: Solidarität, Sicherheit, Stabilität, soziale Einbindung, Soziabilität, Solidität und Selbstwertgefühl (Anerkennung). Dass diese helle lichte Zukunft nie erreicht wurde und in der Nähe von Pula die Gefängnisinsel Goli Otok lag, sollte man freilich nicht vergessen.
Dieses Ungenügen weckte den Widerstandsgeist vieler Werftarbeiter. Und so war es nicht nur eine Ironie der Geschichte, dass die Streikbewegung, aus der die unabhängige Gewerkschaft Solidarnos ́c ́ entstand, in den Werften begann. Ergänzend sei der Oscar-Preisträger Andrzej Wajda erwähnt, der im Gegensatz zu Sting im Buch nicht vorkommt: Er zeigte dieses Beziehungsgeflecht und diesen Widerstandsgeist etwa in seinem Film „Der Mann aus Eisen“, der unmittelbar vor der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981
gedreht worden ist und im selben Jahr die Goldene Palme in Cannes erhielt.
Paradoxerweise zerstörte der große Sieg von Solidarnos ́c ́, die in den Werften verankert war, die Verhältnisse, die ihr erst Macht und Einfluss ermöglicht hatten.Überraschend zuerst für die Wissenschaftler, nun für die Leser, erweist sich die Erkenntnis, wie lange – im Gegensatz zur neoliberalen Rhetorik – die Überlappung von staatlichen Beihilfen und privaten Gewinnen noch Bestand hatte. Erst Jahre nach dem EU-Beitritt (Polen 2004, Kroatien 2013), der für das Werftenkollektiv eine unterschätzte Zäsur darstellt, zerstörten Brüsseler Wettbewerbshüter dieses Beziehungsgeflecht: „Die restriktive Beihilfepolitik sollte unfaire Konkurrenz auf dem europäischen Binnenmarkt unterbinden, blendete dabei aber den globalen Wettbewerb aus, in dem nicht für alle Player dieselben Bedingungen gelten.“ Der Aufstieg Chinas mischte auch in dieser Hinsicht die Karten neu: die neoliberale Ordnung mit ihrem Wettbewerbsdogma konnte der asiatischen Industriepolitik wenig entgegensetzen. Am Ende steht der Bankrott der beiden Werften sinnbildhaft für viele Untergänge, die aber nicht allein mit politischen Zäsuren verbunden sind, sondern mit grundlegenden Veränderungen in Ökonomie und Gesellschaft. In vielen Werften, aber auch auf den Schiffen und anderen Überbleibseln der Industrie, gibt es keine starken Beziehungen einer tradierten Arbeiterschaft mehr. Sie wurde abgelöst von einem zerklüfteten Patchwork aus Koreanern und Ukrainern, Rumänen und Portugiesen, von vereinzelt-abhängigen
Subunternehmern und Leiharbeitsfirmen. Die symbolische Übereinstimmung von Werftarbeit und Lebensentwürfen gibt es damit nicht mehr. Im Fazit erläutert das Werftenkollektiv, „dass ‚westlicher‘ Strukturwandel und ‚östliche‘ Transformation denselben Ausgangspunkt haben“. Zugleich zeigen diese Forschungen, dass trotz Globalisierung die Handlungsmöglichkeiten abhängig bleiben von der Branche, dem Nationalstaat und dem politisch-ökonomischen Regime. Die Stigmatisierung einer aktiven Industriepolitik, wie sie die neoliberal verblendete EU-Bürokratie betreibt, ist zukunftslos geworden.

Mit aktiver Industriepolitik das Klima sichern
Wie weiter, EU? Diesem Souveränitätsverlust sollte mit einem Paradigmenwechsel hin zu einer wiederbelebten Industriepolitik auf Grundlage neuer Technologien begegnet werden, in der der Staat eingreift, um zu schützen und eigenständige Entwicklungen zu ermöglichen. Dieser Wandel – so der Schlusssatz – „käme politisch betrachtet vielleicht gerade noch rechtzeitig für ein Europa, in dem sich viele Menschen, nicht zuletzt in Kroatien und Polen, als Opfer der europäischen Integration sehen und vom Staat mehr an Wirtschaftspolitik erwarten, als nur für die Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen.“
Das im 19. Jahrhundert entstandene Industriezeitalter ist seit den 1970er Jahren schleichend verschwunden. Ob Europa oder der Westen insgesamt noch einmal technologisch „eine neue Zeit, – eine ganz neue Welt“ schaffen kann oder ob – das Werftenkollektiv hält es für möglich – der diktatorische Entwicklungsstaat China ihn überholt, muss offen bleiben. Immerhin hat Wirtschaftsminister Robert Habeck jüngst angekündigt, eine aktive Industriepolitik solle mit der Förderung klimaneutraler Schiffe die Zukunft deutscher Werften sichern. Das ist – vielleicht – ein Hoffnungsschimmer.

Zum Original