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Artikel

Wo die Hölle Pause macht

Geschichte erzählt Emine Sevgi Özdamar von unten, dort wo der Preis gezahlt wird für die große Historie. Das tut Özdamar selbst dann, wenn sie auf dem Höhenkamm mit großen Künstlern wandert. Ihr Leben zickzackt dorthin, wo die Hölle gerade mal Pause macht. Wo kein Krieg ein „großes Festmahl für Würmer" auftischt oder ein Diktator bestimmt. Unter ihren Füßen fühlt sie das vergossene Blut aus der Zeit, als an ihrem jeweiligen Wohnort die Hölle tobte. Sie sieht die Bombenlücken im geteilten Berlin oder spürt die Anwesenheit der ermordeten Armenier in der Türkei.

Wie im Märchen ist die Welt in ihrem neuen Buch „Ein von Schatten begrenzter Raum" vermenschlicht: Die Moskitos singen im Chor, Krähen sprechen, ebenso die „Orthodoxkirche" in der Türkei, die nur ab und zu von Griechen besucht wird, die das Glaubenshaus ihrer vertriebenen Vorfahren sehen wollen. Auch die Gefallenen aus den Kriegen und Massakern sprechen, etwa der Soldat mit dem Kopf unterm Arm. „Orientalisch" nennt man das zuweilen, mir erscheint es exemplarisch für viele Geschichten von den Rändern, die man in einigen Vierteln in den Metropolen hört. Aus Erzählungen aus der schlesischen Heimat meiner Vorfahren mütterlicherseits kenne ich das oder - für alle nachzulesen - aus den Büchern der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die in Niederschlesien spielen.

Ein Moskito erklärt der jungen, noch kein Deutsch sprechenden Arbeitsmigrantin

in Westberlin, „Gastarbeiter“ verwandeln gerade das Wirtschaftswunderland
mit Kriegsspuren zu einem der Einwanderung: „Jedes Land,
das Kolonist war, holt sich jetzt aus seinen Kolonien Arbeiter, Franzosen die
Afrikaner, Briten die Inder, und wen haben die Deutschen geholt?“ Solche
surrealen Szenen, Bilder und Motive sind in der Literatur von Emine Sevgi
Özdamar verankert in der Historie, wie man es aus Filmen von Luis Buñuel
kennt. Sie schaffen eine paradoxe kosmische Intimität. Die Autorin hat sich
wie Joseph Conrad in eine Weltliteratur eingeschrieben, die nicht in der
jeweiligen Muttersprache verfasst wird. In „Ein von Schatten begrenzter
Raum“ erwähnt sie den Polen, der sich zu einem englischen Schriftsteller
von Weltrang entwickelte. Ihre literarischen Mittel sind aber ganz andere.
Wer beispielsweise die Sturmbeschreibungen in Conrads „Taifun“ mit denen
in Özdamars neuem Buch vergleicht, liest beim einen malerisch eindrucksvolle
Beschreibungen, bei der anderen nicht weniger nachhallende poetische
Heraufbeschwörungen der Winde der griechisch-türkischen Inselwelt,
die immer wieder Fliehende töten. Mit einer Szene, in der verhandelt wird,
wohin die Leiche eines ertrunkenen Flüchtlings gehört, endet dieses Buch,
das Dokument und Poesie vereint.
Für ihre deutschen Leser wird der ungewohnte Blick auf das mauergeteilte
Berlin in den 1970er Jahren auf- und anregend sein. Sie lebte in Westberlin,
entwickelte ihre Kunst aber in Ostberlin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-
Platz. Diese wurde damals geleitet von Benno Besson. Der Brecht-Schüler
war als einziger Intendant im abgetrennten Land kein DDR-Bürger. Als
er ging, nahm er Özdamar mit, die seine Worte übermittelt: „Deutschland
erholt sich nicht so schnell von Hitler.“ Zuvor sah sie, obwohl selbst die Teilung
eine „Pause in der Hölle“ war, Spuren des Krieges und der Nazi-Diktatur.
Sie traf auf Frauen mit gerahmten Bildern ihrer im Krieg gefallenen Männer,
die nur eine Hälfte ihrer Betten benutzten. In der Volksbühne erlebte sie
in Heiner Müllers „Schlacht“ bei einer Szene, in der ein Mann die Uniform
auszieht und in letzter Minute von Nazis ermordet wird, wie einer älteren
Frau schlecht wurde und sie gestützt auf ihren Mann das Theater verließ.
Die Gewalt des Nationalismus
Leitmotivisch wiederholt und variiert Özdamar Sätze ihrer Erfahrungen mit
Migration und Flucht: „Als Ophelia ertrunken in meinem Land, wieder in
die Welt gekommen in Deutschland als Putzfrau.“ – „Wenn man von seinem
eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen
Land mehr an. Dann werden nur manche besondere Menschen dein Land.“
Migration heißt, man geht nicht ohne Not, man geht nicht ohne Hoffnung. So
kam sie ins kalte Deutschland und ging wieder zurück in die Türkei. Flucht
hingegen heißt, rette sich, wer kann. Nach dem Militärputsch von 1971,
einem von etlichen, die die Geschichte der Türkei punktierten, floh Özdamar
vor einem bedrohlichen, in „Religion verpackten Ultranationalismus“.
Hart wird gerade wieder einmal gestritten, ob ein – und wenn ja, welches –
Beziehungsgeflecht zwischen der Shoah und anderen Verbrechen besteht.
Özdamar erzählt davon, wie langsam und unerträglich das Verdrängte hervorbricht
– in Familien in Deutschland, aber auch in der Türkei. Da geht es
um die Verbrechen der Wehrmacht, die Shoah oder die Massenmorde an den
Armeniern. Einmal steht die Großmutter, die den Ersten Weltkrieg erlitt, in
Istanbul auf und schreit: „Aboo aboo, wie die armenischen Bräute sich von
den Brücken heruntergestürzt haben.“ Die Oma war dreimal verheiratet, ihre
ersten beiden Männer starben im Krieg. Die Kinder, darunter die Erzählerin,
scherzen: „‚Großmutter, mit welchem Mann wirst du im Paradies zusammenleben?‘
Danach lachten wir.“ Özdamar erzählt von der immer wieder zutage
tretenden Gewalt gegen Armenier, Griechen oder Kurden: „Das Zugrundegehen
des Osmanischen Reiches hatte Angst, Trauma, Unsicherheit hinterlassen.
Alle Türken sollten sich unter einem Nationendach einfinden, damit
sie keine Angst mehr hatten, und wer nicht Türke war, war ein Problem für
die neue Nation.“ Während ihres Schauspielstudiums und kurz danach hatte
sie noch eine Welt erlebt, in der das Türkisch- oder Griechischsein nicht zentral
waren, ihr Umfeld sprach über Pasolini und Gramsci, Nâzım Hikmet und
Buñuel. Indirekt zeigt Özdamar damit – ein Hinweis, was heute falsch läuft –,
wie wichtig kulturelle Einflüsse für die Linke sind. Erst die ständigen Bedrohungen
und die Perspektivlosigkeit zwangen Özdamar und viele andere ins
Exil, wo sich dann etliche vor allem als jüdisch oder armenisch verstanden.
Erinnerungen an eine Revolution
Im Jahr 1982 inszenierte Heiner Müller sein Stück „Der Auftrag. Erinnerung
an eine Revolution“, das paradigmatische Werk über die Revolutionserfahrungen
im 20. Jahrhundert. Es kam auf die Bühnen der Welt in einer Ära, in
der in Polen mit Hilfe des Katholizismus der Aufstand geprobt und im Iran
unter der grünen Fahne des Propheten der Umbruch vollzogen wurde. Im
Stück sagt der aufsteigende schwarze Sklave: „Das Theater der weißen Revolution
ist beendet. Das Theater der Weißen ist zu Ende.“ Spontan singt die
anwesende Emine Sevgi Özdamar ein muslimisch-religiöses Lied. Heiner
Müller will es noch einmal hören und sagt anschließend: „Sehr schön, das
kaufen wir. Dein Gefühl ist ganz richtig. DIE KOMMENDEN KRIEGE SIND
RELIGIONSKRIEGE.“ Eine aufschlussreiche Anekdote, die im Buch assoziativ
fortgesetzt und vertieft wird: In der Inszenierung sollte ein Panther im
Käfig bedrohlich hin und her laufen, aber das Zoo-Tier spielte nicht mit, verkroch
sich und stank „nach lebenslänglich Gefangensein, nach Hoffnungslosigkeit“.
Jahrzehnte später erinnerte sich die Autorin in einem türkischen
Hafen an diesen Geruch: Eine Frau roch ähnlich wie der Panther; sie gehörte
zu einer Gruppe syrischer Menschen, die die Wasserschutzpolizei daran
gehindert hatte, nach Griechenland zu gelangen. Gibt es mittlerweile auch
dort Erinnerungen an eine Revolution?
Nicht nur in Deutschland, sondern auch international ist Emine Sevgi
Özdamar vor allem mit ihrer Istanbul-Berlin-Trilogie „Sonne auf halbem
Weg“ bekannt geworden. Nicht wenige glaubten, nach deren Abschlussband
im Jahr 2003, ein vergleichbares Werk werde es von dieser Erzählerin nicht
mehr geben. Auch Bücher brauchen den Abstand der Zeit, aber es könnte
durchaus sein, dass es sich bei „Ein von Schatten begrenzter Raum“ um
Özdamars Opus Magnum handelt. Auf jeden Fall ist die deutschsprachige
Literatur nun um ein weltliterarisches Werk einer Autorin bereichert worden,
die erst als junge Erwachsene Deutsch lernte.


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