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Im Weltenbrand

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler gehört zweifellos zu den produktivsten und wirkmächtigsten Intellektuellen des Landes. Zu seinem siebzigsten Geburtstag hat er sich nun selbst mit einem neuen Werk beschenkt, das viele bekannte Ideen seiner anderen Bücher an den Schöpfungen eines bemerkenswerten Trios schärft, nämlich an Marx, Nietzsche und Wagner.

Da Karl Marx und Friedrich Nietzsche weithin als die großen Alternativen der Gesellschaftstheorie gelten, überrascht auf den ersten Blick vor allem Richard Wagner in diesem asymmetrischen Bund. Das ist zum einen Münklers langer Beschäftigung mit dem Komponisten geschuldet, die sich auch in einer Zusammenarbeit mit der Berliner Staatsoper manifestierte, wo am Beginn unseres Jahrhunderts durch den Generaldirektor Daniel Barenboim erstmals seit Jahrzehnten wieder Wagners sanktioniertes Gesamtwerk, sein „Dekalog" vom „Fliegenden Holländer" über den „Ring" bis zum „Parsifal", vollständig auf die Bühne gebracht wurde.

Wichtiger aber ist: Marx, Nietzsche und Wagner agieren in einer Welt im Umbruch, so der Untertitel, die der unseren verblüffend ähnelt - nämlich gesellschaftlich, medial und technologisch - und dabei diese, unsere Welt doch erst hervorgebracht hat. Alle drei wirkten zudem, im Guten wie im Schlechten, nicht allein im extremen 20. Jahrhundert, sondern regen immer noch an - und zuweilen auch auf.

Und alle drei setzen sich auseinander mit ihrer Epoche der Revolutionen, der Industrialisierung und der europäischen Weltherrschaft. Sie reagieren auf ähnliche Zeitläufte, aber signifikant anders, was bei Münkler zu verblüffenden Beobachtungen führt. Gerade der
Dialektiker Marx sah die von Nietzsche beschriebene Ent- und Wiederverzauberung
der Welt nicht, und seine Überbetonung der Ökonomie verkennt manches „komplementär-kompensatorische Beziehungsgeflecht“: Während die Ökonomie internationaler wird, wird beispielsweise die Musik nationaler. Die scharfsinnige Kulturdeutung Nietzsches dagegen schlägt zuweilen um in eine ökonomieblinde, auf „Kultur fixierte Selbsttäuschung“.
Eines aber verbindet die drei Heroen: Ihre Werke sind immensen Krankheiten
und Leiden, auch an sich selbst, abgerungen: „Alle drei haben der
Opiate bedurft, um es mit sich selbst auszuhalten“, so Münkler. Und als sie
starben, war ihr Nachleben inklusive ihrer mehrfachen Auferstehungen keineswegs
gesichert. Selbst für Richard Wagner nicht, der als Einziger bereits
als Berühmtheit abtrat. Doch ohne seine umtriebige Witwe Cosima hätten
sich die Bayreuther Festspiele wohl nicht zu einer internationalen Institution
entwickelt. Ganz ähnlich im Falle von Marx: Zu seiner Beerdigung kamen
nur wenige; ohne das Engagement seines Komplizen Friedrich Engels, der
viele der widerstrebenden, unvollendeten Texte zu wirkmächtigen Büchern
bearbeitete und herausgab, wäre dieses Werk vermutlich kein derartiges
Weltereignis geworden. Und auch Nietzsche entwickelte sich zum vielverkauften
und gelesenen Autor erst durch die teilweise verfälschende Arbeit
seiner Erben, allen voran seiner Schwester.
Bei Münkler spielen Marx, Wagner und Nietzsche wie in einem avantgardistischen
Stück nicht mit- und gegeneinander, sondern vor allem zum
gemeinsamen Publikum. Aus gutem Grund: Die einzige echte Beziehung
des Trios, Nietzsches Begeisterung für Wagner, schlug bekanntlich bald um
und es kam zum finalen Bruch. Den größten Teil der Inszenierung geraten
die drei Heroen denn auch „in die Beleuchtung durch den je anderen, aber
ebenso auch in dessen Schatten, und durch beides, Licht wie Schatten, können
wir sie genauer und deutlicher erkennen.“ Dank dieses Perspektivenwechsels
und der neuen Lektüre der Werke dieser drei Schlüsselgestalten
des 19. Jahrhunderts bekommt unser planetarisches Zeitalter Tiefenschärfe.
In Wagners Idee des „Gesamtkunstwerks“ ist der Perspektivenreichtum
des Kubismus und des Films schon angelegt; parallele, divergierende und
verflochtene Geschichten werden durch Leitmotive vereint und zu einem
Gewebe gestaltet. Ganz ähnlich verwendet Münkler seine Themen, von
der Wiedergeburt der Antike über die Religionskritik oder deren Stiftung
bis hin zu den großen Umsturzprojekten – von Marx‘ Versuch, den Lauf der
Geschichte erkennen zu wollen, bis zum Kampf des jüngeren Nietzsches um
individuelle Freiheiten gegen heraufkommende Massengesellschaften.
Immer wieder findet man erstaunliche Paradoxien zwischen dem Trio und
ihrem Schaffen. Der Revolutionstheoretiker Marx konnte den künstlerischen
Aufbruch Wagners, für Kenner der eigentliche Beginn der Neuen Musik,
nicht goutieren. Der 48-Revolutionär Wagner, der nicht nur den Aufstand wie
Marx als Journalist begleitete, entwickelte sich wiederum später zur Galionsfigur
der Konservativen. Und der Einzelgänger Nietzsche mutierte gar
zum vermeintlichen Gewährsmann einer braunen Massengesellschaft.
Doch bei allen Unterschieden, die Münkler auch im Verhältnis zu mythologischen
Gestalten wie Prometheus und historischen wie Napoleon herausarbeitet
und die wie Wagnerische Leitmotive das Ganze zusammenhalten,
wollten alle drei eines gemeinsam – in die Breite der Gesellschaft wirken und
für jeden und jede verständlich sein. So heißt denn auch der Untertitel von Nietzsches Zarathustra, einem seiner zentralen Werke: Ein Buch für Alle und
Keinen. Und zwar durchaus zu Recht, denn trotz Nietzsches geistesaristokratischen
Abstand zu Demokratie und Massen schrieb er nicht nur besser,
sondern auch inklusiver als viele Universitätsphilosophen.
Der in Münklers „Beleuchtung [der drei] durch den je anderen“ angelegte
Perspektivenreichtum macht das Buch zu einem gedanklichen Fitnesszentrum.
Bei aller Abwägung urteilt er teilweise zu Recht sehr scharf – etwa bei
Wagners Antisemitismus. Insgesamt kämpft Münkler jedoch gegen die Einsargung
des ungleichen Trios als versteinerte Klassiker und für das Offenhalten,
um die im doppelten Sinne „ungeheuren“ Bewegungen im Denken
und Handeln für die Gegenwart nutzbar zu machen.
Solche Neuaneignungen können heute, nachdem die Missbräuche, die
teilweise im Werk angelegt waren, selber Geschichte geworden sind, jedenfalls
freier als jemals zuvor erfolgen. Aber können gegenwärtige Auseinandersetzungen
mit diesen Werken und Welten des 19. Jahrhunderts tatsächlich
nochmals kritisch scharf werden?
Dafür macht Herfried Münkler für unsere Welt des Umbruchs immerhin
Vorschläge, indem er Marx, Wagner und Nietzsche in diesem nachhallenden
Buch in ein vielstimmiges Gespräch mit Volten und Abgründen bringt.
Es endet mit dem markanten Satz: „Nur wer die Gewissheiten des jeweiligen
Werks dekonstruiert, gelangt zur Person des Autors; nur wer das Dekonstruierte
nutzt, um die Gegenwart in ihrer irritierenden Vielgestaltigkeit zu erfassen,
kann die Vorzüge dieser Wegbegleitung für sich in Anspruch nehmen.“
Was aber könnte das konkret heißen? Marx verarbeitete in seinem epochalen
Werk die Niederlage von 1848/49; die Revolution deutete er bald nicht
mehr wie noch im Kommunistischen Manifest als Ereignis, sondern vor allem
als Prozess. Ein Aufstand erreicht nach dem reifen Denker Marx nur dann
die Tiefendimension der Gesellschaft, wenn zuvor der untergründige soziale
Prozess dafür die Möglichkeit geschaffen hat.
Was aber nutzt der lange Atem heute, wenn die Klimakatastrophe immer
bedrängender wird? Während ich diese Zeilen schreibe, brennt es in Südosteuropa
und auf anderen Kontinenten – im nördlichen Sibirien, im südlichen
Brasilien oder in Kalifornien. Doch selbst wenn das Thema Weltenbrand
durch die Klimakatastrophe anders, weit konkreter zu gewichten ist als im 19.
Jahrhundert, bleibt Münklers Kritik scharf, dass die Brandmetapher, Wagners
„reinigendes Feuer“, als Voraussetzung für den Neuanfang oft lediglich
zu einer moralischen Allgemeinkritik tendiert und politisch folgenlos bleibt.
Wie aber könnten dann taugliche Strategien entwickelt werden, die die
vielfach verflochtenen und nicht trennscharf zu unterscheidenden Krisen
unserer Zeit eindämmen und schließlich überwinden? Oder leben wir tatsächlich
im Zeitalter von Nietzsches letzten Menschen, die im Glück „blinzeln“
– unfähig zu großen Taten wie der „Erdfloh“? Auch wenn das Buch
von konkreter Politikberatung weit entfernt ist, kann es zur Analyse unserer
Gegenwart sehr hilfreich sich, sich auf den Schultern von Herfried Münkler
mit Marx, Wagner und Nietzsche auseinanderzusetzen – als unseren
„Begleitern im 21. Jahrhundert“.


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